Thomas Edward Lawrence studierte an der Universität von Oxford Geschichte mit dem Schwerpunkt der mittelalterlichen Geschichte. In seiner Examensarbeit untersuchte er den Einfluss der Kreuzzüge auf die Militärarchitektur in Europa bis zum Ende des 12. Jahrhunderts. In zahlreichen Biographien über Lawrence wird der Standpunkt vertreten, dass sein Leben untrennbar mit dem Mittelalter verknüpft gewesen sei. Wird diesen Lebensbeschreibungen Glauben geschenkt, so ergibt sich der folgende Lebenslauf, der sich in seiner Darstellungsweise an Jeremy Wilson orientiert.
Lawrence weiß bereits seit früher Kindheit alle Einzelheiten seiner illegitimen Geburt und flieht daraufhin schockiert in eine mittelalterliche Scheinwelt – liest seit früher Jugend romantische Ritterromane wie den Chanson de Roland, identifiziert sich dabei mit dem ebenfalls unehelichen Galahad und begibt sich auf die Suche nach dem Heiligen Gral – will als weißer Ritter seiner übermächtigen Mutter gefallen und erfindet ihr zuliebe Heldengeschichten – besitzt wie sein Lieblingsautor William Morris ein verklärtes Bild des Mittelalters, zumal beide in Oxford lebten – entwickelt besessenes Interesse für die Geschichte der Kreuzzüge und reist in den Orient um Kreuzfahrerbauten zu studieren – dieses Interesse kulminiert in der Niederschrift seiner Examensarbeit über Kreuzfahrerbauten und in der Teilnahme am arabischen Aufstand – will eigenen Kreuzzug führen und hält sich selbst für Richard I. Löwenherz (oder Saladin oder Merlin) – hält in Arabien das Mittelalter für existent und die Araber für Ritter – bereitet sich seit seiner Kindheit auf den arabischen Aufstand vor, durch den er endlich den langersehnten typisch mittelalterlichen Krieg führen kann – missbraucht sowohl die Araber als auch deren Aufstand für die Auslebung seiner Mittelalterfantasien – verfasst mit den Seven Pillars of Wisdom ein mittelalterliches Epos – will nach Ende des Krieges, so wie es im Mittelalter üblicherweise die Ritter getan haben, in ein Kloster eintreten, da es aber keine mittelalterlichen Klöster mehr gibt, tritt er konsequent in deren modernes Äquivalent, die Royal Air Force, ein.
Die meisten Biographien erwecken den Eindruck, als sei das Leben von Lawrence untrennbar mit dem Mittelalter verknüpft, mehr noch außerhalb dieses Kontextes und desjenigen der Illegitimität nicht einmal denkbar gewesen. In der vorliegenden Arbeit werden erstmals die Ursprünge der Darstellungen untersucht, in denen Lawrence’ Leben immer wieder mit dem Mittelalter in Verbindung gebracht wird. Berücksichtigt werden dabei ausschließlich die biographischen Schriften des angloamerikanischen Raumes. In vier Themenschwerpunkten sollen der Aspekt der Illegitimität, Lawrence’ vermutete Flucht in eine mittelalterliche Lebensfantasie und die Darstellungsweisen von Lawrence als Kreuzfahrer sowie die der Royal Air Force als mittelalterliches Kloster eingehend untersucht werden. Dabei werden sowohl Lawrence’ eigene Aussagen analysiert als auch die der Biographinnen und Biographen. Es soll aufgezeigt werden, wie diese Bilder entstanden und welchen Anteil Lawrence beziehungsweise die Biographien daran hatten. Die folgenden zentralen Fragen sollen dabei beantwortet werden: Litt Lawrence wirklich an seiner illegitimen Geburt? Floh Lawrence tatsächlich in eine Art mittelalterliche Scheinwelt, in der er sich selbst als Kreuzfahrer oder Ritter sah? War sein Interesse für die Kreuzzüge tatsächlich von einer Besessenheit gekennzeichnet? Betrachtete Lawrence tatsächlich die Royal Air Force als modernes Äquivalent zum Kloster des Mittelalters und hielt er die Araber tatsächlich für mittelalterliche Ritter? Oder sind dies nur Behauptungen, die in Biographien aufgestellt werden? Wenn dem so ist, wie sind dann diese Darstellungen entstanden und warum haben sie sich so lange halten können? Gab es einen Wandel in der Darstellungsweise dieser Thesen in den Biographien? Haben sich die Biographinnen und Biographen gegenseitig beeinflusst?