Literatur diskutiert und beschreibt Identitätsmodelle. Innerhalb der Lyrik konzentriert sich die Frage nach 'Identität' im Wesentlichen auf die Frage "Wer spricht?", die zwei der umstrittensten Bereiche innerhalb der germanistischen Literaturwissenschaft aufruft: 'Ich' und 'Rolle'. Im Sprechen über 'Gott und die Welt' in der Sangspruchdichtung nimmt das Ich eine Vielzahl an Rollen an und die Sprecheridentität gerät so vielfältiger als anderswo. Das wirft neben der Frage nach der Einzelreferenz auch das Problem einer Einheit bzw. Bündelung der Sänger-Rollen vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Welt- und Gesellschaftssicht auf. Auf der Suche nach Wesen und Bezeichnung des in der Sangspruchdichtung generierten, transportierten und diskutierten Identitätsmodells kristallisiert sich im Rahmen der Untersuchung für das 13. Jahrhundert eine besondere 'Ästhetik der Identität' heraus, die nicht nur einen Beitrag zur Gattungsgeschichte, in poetologischer und sozialhistorischer Hinsicht leistet. Sie trägt zugleich auch zur theoretischen Fundierung mittelalterlicher literarischer Kommunikation bei und wirft aus literaturwissenschaftlicher Perspektive ein neues Licht auf das kulturhistorische Phänomen von 'Identität' im Mittelalter.