Die Literaturwissenschaft hat sich in den vergangenen Jahren wenig um neue Anstösse in der Auseinandersetzung mit Lyrik bemüht - besonders die dem Anspruch dieser Gattung so sehr entgegenkommende textimmanente Lektüre scheint zu Unrecht aus der Mode gekommen zu sein. Dass jedoch gerade einer vom poetischen Text als Basis literaturwissenschaftlicher Analyse ausgehenden Betrachtung neue theoretische Impulse abzugewinnen sind, beweist der vorliegende Band, der die Beiträge eines deutsch-polnischen Kolloquiums vereint. Der über Platon und Hegel bis heute nachwirkenden Annahme, es beim Genre der Lyrik mit einer Form authentischen Sprechens zu tun zu haben, wird programmatisch die aus Bachtins Erzähltheorie übertragene These von einer polyphonen Disposition besonders moderner und aktueller Lyrik gegenübergestellt. In Beiträgen, die aus deutscher und polnischer Sicht die Entwicklung der Lyrik seit 1945 in den Blick nehmen, widmen sich die Autoren dieses Bandes zentralen lyrischen Stimmen beider Länder (u.a. Bachmann, Brinkmann, Celan, Grünbein, Ernst Meister, Heiner Müller, Herbert, Hilbig, Miŀosz, Rożewicz, Szymborska), ohne dabei den komparatistischen Horizont (etwa im Beitrag zur Rimbaud-Rezeption in der DDR-Lyrik), intermediale Bezüge (etwa bei der lyrischen Rezeption von Wajdas 'Asche und Diamant'), das Übersetzungsproblem oder auch Fragen der Vermittlung und Didaktik aus dem Blick zu verlieren.