Das Serail versinnbildlicht seit der frühen Aufklärung des 18. Jahrhunderts im europäischen Denken einen Ort, der für Despotie und Unvernunft, zügellose Leidenschaft und Grausamkeit, Intrigen und laszive Ausschweifungen steht. Die Vorstellungen vom Leben am Osmanischen Hof in Istanbul bildeten für Literatur, Malerei und Musik Handlungsrahmen, Kulisse und Bühne zur (Selbst-)Inszenierung. Der Serail wurde als Schreckens- und Sehnsuchtsort zugleich entworfen.
„Istanbul ist nicht einfach ein Ort außerhalb Europas. Istanbul steht für den schrecklichen Türken, ebenso für den Islam, diese Geißel des Christentums und Verkörperung der bedrohlichen morgenländischen Apostasie. Für die gesamte klassisch-humanistische Epoche der europäischen Kultur war die Türkei gleichbedeutend mit dem Orient und der Islam dessen gefürchtetster Repräsentant“, schrieb der 2003 verstorbene Literaturwissenschaftler Edward Said. Vor diesem Hintergrund stellt das Serail, beispielhaft für den Orientalismus, einen Raum im europäischen Denken dar, zu dessen Entschlüsselung dieser Sammelband mit dem Ziel beitragen möchte, interkultureller Verständigung zwischen Europa und der islamisch geprägten Welt rund um das Mittelmeer den Zugang zu erleichtern. Die Hinterfragung überlieferter, fortwirkender und nostalgisch wiederbelebter Bilder vom Orient ist ein erster Schritt in diese Richtung. “Entführung in den Serail“ hat Beiträge aus verschiedenen Disziplinen, der Geschichts-, Literatur-, Musik-, Museums-, Kultur- und Kunstwissenschaft, gesammelt. Der zeitliche Bogen spannt sich von antiken Kleopatra-Diskursen zu frühneuzeitlicher Kreuzzugsdichtung in das 19. Jahrhundert, seine Reiseliteratur, der Oper, den Weltausstellungen und der Plakatkunst, bevor sich die Beiträge der Nostalgie, dem Orientalismus heute und jenseits davon, widmen. Mit Beiträgen von Rima Chahine, Kerstin S. Jobst, Susan Kamel, Annette Kreutziger-Herr, Sabine Müller, Verena C. Paulus, Detlev Quintern, Beril Saydun, Silke Segler-Messner, Kristina Starkloff und Natascha Ueckmann.