Der Begriff des Byronismus bezeichnet traditionell die Nachahmung Lord Byrons durch ausländische Autoren und wird in diesem Sinne häufig als weltanschauliche Kategorie, synonym zu ‚Weltschmerz‘, ennui oder mal du siècle verwendet. Die vorliegende Arbeit untersucht demgegenüber die Gemeinsamkeiten, die das Oeuvre Byrons und der ‚Byronisten’ auch jenseits direkter Entlehnungen und thematischer Übereinstimmungen kennzeichnen. Ausgehend von einem weitgefassten Moderne-Begriff wird der Byronismus als eine länderübergreifende literaturhistorische Signatur im Zeichen der ästhetischen Moderne interpretiert. Das Krisenbewusstsein der neuen Epoche schlägt sich in den Werken Byrons und der ‚Byronisten‘ in Form von spezifischen Strategien nieder, die Situation der Dichtung in einer gefühlten ‚Un-Zeit’ künstlerisch zu erfassen, das Spannungsverhältnis zwischen Innovation und Tradition literarisch produktiv zu machen und aus den Bruchstücken des literarischen Erbes mit intertextuellen Verfahren neue Texte zu produzieren. Darin offenbaren sich Verbindungslinien innerhalb der europäischen Literatur um 1800 und um 1900, welche die traditionellen Epocheneinteilungen der Literaturgeschichtsschreibung unterminieren.