Als am 27. Oktober 1553 in dem erst wenige Jahre zuvor durch Calvin reformierten Genf erstmals ein 'Ketzer' bei lebendigem Leib verbrannt wurde, ging ein Aufschrei der Empörung durch die Reihen derer, die vor den Scheiterhaufen der Inquisition geflohen sind. Welches Recht hatte ausgerechnet die Reformation, Andersdenkende zu verfolgen? War sie nicht selbst ureigentlicher Ausdruck andersmeinender christlicher Gewissens- und Glaubensüberzeugung gegen die katholische Kirche?
Diese Empörung fand in dem Basler Humanisten und ehemaligen Mitarbeiter Calvins, Sebastian Castellio, ihre bedeutendste und geschichtsmächtigste Stimme. Bereits kurz nach der Hinrichtung Servets erschien seine Schrift De haereticis, in der er sich grundsätzlich und mit eindringlicher Schärfe dagegen aussprach, Ketzern anders als mit 'geistigen Waffen' zu begegnen, geschweige denn sie zu töten.
Wenn man schon Menschen wegen Habgier, Lügen und Verleumderei nicht tötet, warum dann Ketzer? 'Tatsächlich konnte ich trotz vieler Nachforschungen darüber, was ein Ketzer sei, nichts anderes feststellen, als dass jeder für einen Ketzer gilt, der anders denkt als wir.'
Obwohl die Gedanken und Wirkungen seiner Schrift einige Jahrhunderte später maßgeblich zum Katalog der Menschenrechte beigetragen haben, sind Castellios Name und mehr noch sein Werk bis heute nur einem kleinen Kreis von Fachgelehrten bekannt. Mit dieser Ausgabe soll daher begonnen werden, erstmals einige der bedeutsamsten Schriften Castellios in deutscher Übersetzung vorzustellen. Sei es auch – wie Stefan Zweig schreibt – manchen 'verhängt, im Schatten zu leben, im Dunkel zu sterben', so sollte dies für die Nachwelt erst recht Grund und Ansporn sein, diese aus dem Schatten der Geschichte hervorzuholen und ihnen neue Geltung zu verschaffen im Licht einer um Gerechtigkeit bemühten Öffentlichkeit. Denn wenn es darum geht – und die Zeiten sind heute nicht weniger gefährdet als vor 450 Jahren –, 'Toleranz gegen Intoleranz, Freiheit gegen Bevormundung, Humanität gegen Fanatismus, Individualität gegen Mechanisierung, das Gewissen gegen Gewalt' (Stefan Zweig) zu verteidigen, dann ist es an der Zeit, sich nicht nur Castellios Namen zu erinnern, sondern endlich auch seine von einem tiefen, gelebten, christlichen Humanismus geprägten Schriften einer aufgeschlossenen Leserschaft zugänglich zu machen.