Moses Mendelssohn, seinerzeit europaweit berühmter Philosoph und jüdischer Aufklärer, litt von 1771 bis an sein Lebensende 1786 an einer Krankheit, die bis heute rätselhaft geblieben ist. In seiner umfangreichen Korrespondenz und in öffentlichen Verlautbarungen aus dieser Zeitspannebeklagte Moses Mendelssohn eine ihn außerordentlich stark beeinträchtigende 'Nervenschwäche'. Die über 200-jährige Mendelssohn-Forschung ist allerdings nur rudimentär auf die Krankheitsumstände und ihre Auswirkungen eingegangen. Bis heute ist kein überzeugendes Erklärungsmodell für Mendelssohns Erkrankung bekannt.

In der nun vorliegenden Studie wird durch die psychologische Herangehensweise unter Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Aspekte eine neue Sicht auf das Krankheitsgeschehen eröffnet. Damit ergeben sich weitreichende Erkenntnisse nicht nur im Hinblick auf Mendelssohns 'Nervenschwäche', sondern auch hinsichtlich der Auswirkungen auf Mendelssohns Schaffen. Seine Biographie, zu der u. a. umfangreiche schriftliche Äußerungen von Mendelssohn selbst, von Freunden und Bekannten sowie insbesondere Aussagen seiner Ärzte herangezogen wurden, wird im Wesentlichen unter krankheitsrelevanten Gesichtspunkten erkundet. Um zu einer an den historischen Vorgaben orientierten psychologischen Problemanalyse zu gelangen, die die Gesamtsymptomatik von ihrer Entstehung bis zur Aufrechterhaltung in einen multifaktoriellen Bedingungszusammenhang stellt, war angestrebt, möglichst alle für die Person und die Krankheitsentwicklung bedeutsamen Daten zu identifizieren. Besondere Beachtung finden dabei die um die Mitte des 18. Jahrhunderts vorherrschenden ärztlichen Auffassungen über Nervenleiden als 'Krankheit der Gelehrten'.