'Gerecht behandeln soll ich euch: alle gleich, jeden anders!' So
könnte eine Lehrperson ihre Aufgabe zusammenfassen. Hauptziel
dieser Studie ist es, besser zu verstehen, wie Schweizer Primarlehrpersonen
ihre zum Teil widersprüchlichen Funktionen gegenüber
Kindern mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten
deuten und legitimieren. Im Vordergrund
stehen hierbei die theoretische Modellierung und empirische Prüfung
der entsprechenden Deutungsmuster. Theoretisch wird Förderung als
Verteilungsproblem bzw. als endliche Ressource in Schulklassen begriffen.
Aufbauend auf einer Fragebogenerhebung in zwei Kantonen wurde
zudem eine Stichprobe von Lehrpersonen im Sinne des Extremgruppenvergleichs
mittels problemzentrierten Interviews befragt. Es zeigt sich
u.a., dass Förderbemühungen ungleich auf drei Leistungsgruppen verteilt
werden, wobei das schwächste Drittel der Schülerinnen und Schüler über
alle Zeitpunkte im Schuljahr und fast alle Tätigkeiten hinweg am meisten,
die stärksten Schülerinnen und Schüler am wenigsten Aufmerksamkeit
erhalten. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass das Ausgleichen von
Leistungsunterschieden ungeachtet der Imperative aus Volksschulgesetzen
und Expertenempfehlungen als wesentliche Aufgabe der Primarschule
betrachtet wird. Sie zeugen ebenfalls von der Vernachlässigung
der Bildung professioneller Kompetenzen in Verteilungsfragen, die zur
Hauptsache in Koordinationsleistungen zwischen den Ansprüchen der
Gesamtverteilung von Vor- und Nachteilen in der Klasse einerseits und
jenen des individuellen Förderbedarfs andererseits vermutet werden.