Das aus dem 15. Jahrhundert stammende Lehrwerk des Regensburger Werkmeisters Matthäus Roriczer gehört zu den raren Zeugnissen, die theoretische Grundlagen für die gotische Baukunst zum Gegenstand haben und deren dichter Gehalt die Gestaltungskunst von Roriczers Berufsstand bezeugen. Es befaßt sich mit Architekturgliedern des Kathedralbaus (mit Wimperg, Fiale und Spitzbogen), die für den Lehrmeister eine durchdachte Ordnung bilden.
Wolfgang Strohmayer verfolgt mit seiner eingehenden Untersuchung des Lehrwerkes, die er als Ergänzung zu der von Ferdinand Geldner herausgegebenen Faksimileausgabe versteht, die Absicht, Roriczers Anweisungen und Kenntnisse lesbar und so für uns zugänglich zu machen. In Roriczers Schriften findet er eine besondere Kunst der Gestaltung vor, in der ein Verfahren einen eigenständigen Wissenszweig bezeugt, den Roriczer „Kunst der Geometrie“ nennt. Bei diesem Verfahren dienen einzelne Gestaltungsvorgänge der exemplarischen Demonstration, wie eine einheitliche Gestalt zu entwerfen ist.
Merkmale des unerkannten Gestaltungsverfahrens werden von Strohmayer erstmals definiert und in groben Zügen umrissen. Er zeigt nicht nur auf, daß dort kein Gegensatz zwischen geometrischen und ganzzahligen Lösungen existiert, sondern auch, daß der Werkmeister mit diesem Verfahren eine allgemein anwendbare und flexible „Kunst des Entwerfens“ offenbart, die er an einer Fiale anschaulich vorführt. Mit der „Kunst der Geometrie“ als einer „Kunst des Entwerfens“ vermittelt Roriczer auch ohne eigene mathematische Begrifflichkeit Lehrinhalte seines Wissenszweiges.
Dabei möchte aber der Werkmeister, der die „Kunst der Geometrie“ zum gemeinen Nutzen ans Licht bringen will, seine Leser ohne Berücksichtigung baulicher Vorgaben, technischer Belange oder irgendwelcher Sachzwänge auch in einer elementaren Geometrie unterweisen. So liefert Roriczers Lehrwerk, das sich durch Strohmayers Analyse als systematisch angelegtes Lehrwerk entpuppt, den Beweis für die Existenz eines eigenständigen, mathematisch orientierten Wissenszweiges, der vor allem eine besondere Gestaltungskunst zum Gegenstand hat.
Roriczer beruft sich in seinen Ausführungen auf ein altes Wissen von Lehrmeistern, die über diese besondere „Kunst“ verfügt und sie auch wohl mündlich weitergegeben haben. Denn aus der Entstehungszeit der klassischen gotischen Kathedralen, deren Bestehen ausführliche Kenntnisse und zumindest geschickte Handhabung mathematischer Gesetze durch ihre Erbauer nahelegt, ist kein schriftliches Lehrwerk über die von Baukünstlern benötigten Elementargrundlagen überliefert, so daß eigenständige mündliche Überlieferungen von mathematisch orientierten Konstruktionen zu vermuten sind.
Wegen der Kargheit der in wenigen schriftlichen Quellen überlieferten Kenntnisse ist bei der Beurteilung von Elementar- und Entwurfsgrundlagen der mittelalterlichen Baukunst größte Zurückhaltung geboten. Doch kann Strohmayers Darlegung der in Roriczers Schriftwerken auffindbaren mathematischen Substanz dort zu Kenntnissen führen und Wissenslücken schließen helfen, wo die schriftliche Überlieferung über die Entwurfsgewohnheiten der gotischen Baukünstler recht defizitär ist.
So läßt sich also aus den von Strohmayer gewonnenen Erkenntnissen auch ableiten, daß es zumindest im 15. Jahrhundert tatsächlich eine eigenständige und durchgehende Überlieferung eines umfangreichen Grundstockes mathematischer Elementargrundlagen gegeben hat, der heute noch weitgehend unbekannt ist.
Mit seinen Untersuchungen gelingt es Strohmayer ferner, einige Rückschlüsse auf die Lehrmethoden und Gestaltungsprinzipien der von Roriczer erwähnten Lehrmeister zu ziehen. Sie besaßen anscheinend die Fähigkeit, wohldurchdachte Konzepte zunächst unabhängig von äußeren Sachzwängen nach besonderen Grundsätzen zu entwickeln, die sich ausnahmslos an der exakten mathematischen Substanz von geometrischen Figuren und ganzen Zahlen orientieren, um schließlich in weiteren Lernschritten die Schüler für komplizierte Konstruktionen und technische Belange umfassend zu rüsten.
Möglicherweise liefern die von Strohmayer gewonnenen Einsichten zum Lehrwerk des Matthäus Roriczer weitere Anhaltspunkte zur Erforschung anderer gotischer Baudenkmäler. So könnte aus den Schriftwerken des Matthäus Roriczer ein verbindliches Gestaltungsverfahren für eine ganze Periode der abendländischen Kunstgeschichte uns erschlossen werden. Damit wäre das Lehrwerk des Werkmeisters als maßgebliche schriftliche Quelle zu den Grundlagen spätgotischer Baukunst sicherlich neu zu bewerten, so daß es künftigen Forschungen zu den Denkmälern als gleichsam neues Grundlagenwerk zur Verfügung stehen kann.