Ist Kunst durch das Sehen bestimmt oder rein konzeptuell? Weder noch. In seiner Studie Kunst im Sehverlust analysiert Volkmar Mühleis die Modifikationen des Kunstbegriffs, wenn das Sehen wegfällt und das Denken allein Anschaulichkeit nicht garantiert, und zwar am Beispiel professionell arbeitender blinder Künstler in Europa. Im phänomenologischen Abgleich von Sehen und Tasten, Vorstellen und Wissen zeigt er die Geschichte blinder Künstler seit 350 Jahren auf, einhergehend mit einem wachsenden ästhetischen Interesse für den Tastsinn bei Heinrich Wölfflin, Max Raphael, Rudolf Arnheim u.a. 'Die Analyse des andern ist eine Selbstanalyse', so Mühleis, und entsprechend stellt er die behandelten Werke in Rückbezug zu vergleichbaren Arbeiten tradierter Künstler – wie James Turrell, Alberto Giacometti, Marcel Duchamp. Blindheit wird hier also ebensowenig metaphorisch thematisiert wie als Phänomen des Andern, sondern als Teil einer gemeinsam differenzierten Struktur, die es ermöglicht, Kunst zu erleben.