Aus dem philosophischen Schaffen Franz Rosenzweigs (1886-1929) hat vor allem seine Darstellung des dialogischen Prinzips einen grösseren Bekanntheitsgrad erlangt. Das vorliegende Buch befasst sich mehr mit seiner systematischen Gesamtkonzeption, in deren Kontext sich auch die Beschreibung der menschlichen Personalität und der interpersonalen Beziehung erst richtig erschliesst. Bereits in Rosenzweigs Werk kristallisiert sich eine Gegenüberstellung zweier Denkansätze heraus, mit denen wir uns noch heute hauptsächlich um Orientierung in der Welt bemühen: das sind der Verstehenshorizont des Lebensalltags und das systematisch wissenschaftliche Denken. Beide Formen des Wirklichkeitsbezugs unterscheiden sich erheblich in Herangehensweise und Funktion. Das hauptsächliche Unterscheidungsmerkmal ist ihr jeweiliger Umgang mit der Erfahrung. In Philosophie und Wissenschaften werden personengebundene Erlebnisse und Interessen aus dem Erfahrungsbegriff weitgehend ausgeschieden, um zu möglichst allgemeingültigen Aussagen über das Universum oder einzelne Wirklichkeitsausschnitte zu gelangen. Dagegen werden persönliche Anliegen und Erfahrungen sowie kulturelle Eigenheiten in den Verstehensweisen des Lebensalltags bewusst einbezogen; zu ihnen zählen auch die Deutesysteme religiöser Traditonen. Traditionen werden gebildet, um das individuelle Leben in einen alle Lebensbereiche umfassenden Gesamtsinn und in die Geschichte einer Gemeinschaft zu integrieren. Die Welt, von der hier gesprochen wird, ist nicht das allumfassende, neutrale Universum des Wissens, sondern die begrenzte Lebenswelt der jeweiligen Gemeinschaft. Auf Grundlage der vorgelegten Analysen kann daher einerseits der Beitrag der Traditionen zu einer sinnorientierten gemeinsamen Lebensgestaltung hervorgehoben werden; zum anderen ist aber auch auf die grundsätzliche Partikularität und Pluralität ihrer Interpretationen zu schliessen.