Das „Nibelungenlied“ ist nicht zuletzt aufgrund seiner schillernden und nicht immer glücklichen Rezeptionsgeschichte das heute vielleicht bekannteste Werk des deutschen Mittelalters. Als es gegen Ende des 12. Jahrhunderts als Buchepos konzipiert wird, hat sein bis dahin überwiegend mündlich überlieferter Stoff bereits eine 700-jährige Vergangenheit hinter sich. Der hochmittelalterlichen Feudalgesellschaft mussten die Geschichten aus der Völkerwanderungszeit, zusammengeschoben auf eine einzige Generation, allerdings schon einigermaßen fremd sein. Die dort geschilderte, archaische Lebensordnung stand in scharfem Kontrast zum von der Jahrhundertmitte in West- und Mitteleuropa ausgebildeten Ideal einer höfischen Lebensweise, wie sie vor allem im Artusroman verherrlicht wird.
Dieses Spannungsverhältnis ist Ausgangspunkt der Interpretation, die das „Nibelungenlied“ unter neuer Perspektive betrachtet. Sie versucht nicht, wie es lange Zeit geschehen ist, die im Text auftretenden Motivationslücken und Brüche aus der angeblich nicht recht gelungenen Kompilation heterogener Stoffe zu erklären, sondern liest das „Nibelungenlied“ im Lichte der Auseinandersetzung zwischen heroischer Vergangenheit und feudalhöfischer Gegenwart. Die 2. Auflage bezieht vor allem neuere Überlegungen zur Entstehungsgeschichte des Epos und zu den konkurrierenden Fassungen ein, an denen gezeigt werden soll, wie auch nach einer ersten Verschriftlichung der „alten maeren“ die Arbeit an der Sage in der Umgestaltung des Textes weiterging.