Christine Herman untersucht die Transformationen des taurischen Iphigeniemythos im 20. Jahrhundert. Dabei hat sie den deutschsprachigen Literaturraum im Blick. Als zentraler Prätext steht Goethes Drama Iphigenie auf Tauris, das die Autorin als ‘Wendetext’ versteht, im Hintergrund der Studie. Mit Goethes Bearbeitung wird Iphigenie zur Ikone der Humanität. Im Dialog mit Goethe und der Zeitgeschichte untersucht die Autorin vier zentrale Mythostransformationen. Diese stehen ihrerseits an Wendepunkten deutscher Zeitgeschichte: Gerhart Hauptmanns Iphigenie in Delphi (1941) und Iphigenie in Aulis (1944), Rainer Werner Fassbindes Iphigenie auf Tauris von Johann Wolfgang von Goethe (1968), Jochen Bergs Im Taurerland (1977) und Volker Brauns Iphigenie in Freiheit (1992). In diesen Texten gelingt die Herbeiführung einer friedlichen Wende nicht mehr aus dem idealen Menschsein Iphigenies heraus. Die Transformationen des Mythos werden so zu Manifesten der Humanitätsskepsis. Ein Paradigmenwechsel wird greifbar, der sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der literarischen Rezeption von Goethes Iphigenie auf Tauris vollzogen hatte.
Herman erarbeitet dieses Ergebnis mit Hilfe forcierter Interdisziplinarität, indem sie zeitgeschichtliche Faktoren als interkontextuelle Referenzpunkte stark macht.