Erlkönig, Weltenesche
und Lindenblütentee

Von jeher bilden Menschen und Bäume eine enge Schicksalsgemeinschaft. Wie alle grünen Pflanzen setzen Bäume bei der Photosynthese Sauerstoff frei, ohne den Menschen und Tiere nicht existieren könnten. Wälder beeinflussen als „grüne Lunge“ das Klima einer Landschaft. Künstler und Philosophen holen sich beim Besuch „ihrer Bäume“ Inspirationen; Buddha erlangte unter einem Bodhi-Baum die Erleuchtung; unter Eichen und Linden wurde einst Recht gesprochen. Und kopfüber an der Weltenesche „Ygg-drasil“ hängend entdeckte Odin, germanischer Gott der Weisheit, der Ekstase und Dichtkunst, das Ge-heimnis der Runen und vereinigte sich mit dem Kollektivbewusstsein der gesamten Natur.
Der angelsächsische Missionar Bonifatius soll, laut Überlieferung, in Hessen die von den Germanen verehrte „Donar-Eiche“ gefällt und damit einen entscheidenden Erfolg in Sachen Christianisierung errungen haben. In seiner Rücksichtslosigkeit konnte sich der „Apostel der Deutschen“ durchaus auf hochverehrte Vorbilder berufen. Nach Matthäus 21, 18–22 hat Jesus vor lauter Ärger einen Feigenbaum verflucht, so dass dieser verdorrte und nie wieder Früchte trug. Welche globalen Auswirkungen es hat, wenn der Mensch sich – ganz im Sinne der Bibel – die Erde untertan macht, zeigt nicht nur die rücksichtslose Rodung der Regenwälder.
Bäume hatten seit jeher ihren Stellenwert in der Volksheilkunde. Viele Bauern und Jäger tragen nach Sitte ihrer Väter heute noch Kastanien in der Hosentasche – als Schutz vor Rheuma. Lindenblüten-Tee kennt wohl jeder, der als Kind erkältet war und Fieber hatte. Dass Weißdorn das Herz stärkt und den Blutdruck senkt, wird durch neuere wissenschaftliche Untersuchungen bestätigt. Ebenso, dass Kirschen schmerzlindernd wirken – nicht nur in Form eines wärmenden Kirschkern-Kissens. Die Wirkung des bekannten Schmerzmittels Aspirin beruht auf dem Extrakt aus der Weidenrinde; und während Kinder im Herbst Figuren aus Kastanien basteln, sammeln Naturheilkundige die braunglänzenden Früchte mit der stachligen Hülle, um daraus Tinkturen gegen Hämorrhoiden und Krampfadern zu bereiten.
Man kann einen Baum nach astrologischen Gesichtspunkten fällen und als „Mondholz“ verkaufen, man kann den Baum auch Baum sein lassen und sich von seinem Geist zu kraftvollen Kompositionen inspirieren lassen wie etwa der Harfner Fred Hageneder. Goethe verarbeitete Elemente des Volksglaubens in seinem „Erlkönig“. Bergbauern im Himalaya verteidigen ihre Existenzgrundlage gegen Rodung, Straßenbau und Überweidung, indem sie die von ihnen als heilig verehrten Bäume umarmen. Die weltweit als „Baumfrau“ bekannt gewordene Julia Butterfly Hill bewahrte Ende der 90-er Jahre einen 65 Meter hohen Redwoodbaum in Kalifornien vor dem Fällen, indem sie 738 Tage lang ununterbrochen auf ihm zubrachte.

So, und nun wünsche ich Euch viel Freude beim Lesen.

Willi Dommer
Erfahrungen und
Erlebnisse