Obwohl die indianischen Bevölkerungsgruppen Nordamerikas sich in Deutschland seit jeher einer breiten Popularität erfreuten, sind sie von der deutschsprachigen Völkerkunde eher vernachlässigt worden. Seit dem Beginn des 20. Jh. hat man dieses Terrain weitgehend der amerikanischen Cultural Anthropology überlassen, die den Gegenstand ihrer Forschungen gewissermassen gleich vor der Haustür hat. Vielleicht scheuten deutsche Ethnologen aber auch davor zurück, sich auf ein Gebiet zu begeben, das die Populärkultur für sich gepachtet zu haben schien und in dem es zunächst vor allem gegolten hätte, gegen zahlreiche positive und negative Stereotypen anzukämpfen.

Der vorliegende Sammelband wurde unter der Leitung des Teilprojekts „Konstitution und historische Transformation indigener Wissenskulturen Nordamerikas“ am Sonderforschungskolleg „Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel“ der Goethe-Universität Frankfurt/Main zusammengestellt und Professor Christian F. Feest, der von 1993–2004 den einzigen Lehrstuhl für die Ethnologie des indigenen Nordamerikas im deutschsprachigen Raum innehatte, gewidmet. Die daran beteiligten WissenschaftlerInnen verbanden u.a. Archivstudien und Feldforschung, um den im aktuellen sozialwissenschaftlichen und philosophischen Diskurs so zentralen Begriff des Wissens auszuloten. Sie nutzten die Chance, die im indigenen Nordamerika quasi im Zeitraffer ablaufenden Modernisierungsprozesse und deren Wechselwirkung mit den jeweiligen Wissenskulturen zu studieren.

Um den Sammlungshintergrund musealer Objekte zu erschließen, fragen G. Bucher, E. deVries und S.S. Kasprycki in ihren Beiträgen nach der Persönlichkeit der Sammler, den Umständen der Entstehung und den Strategien beim Anlegen von Sammlungen. Selbst- und Fremdbilder sind im weiteren Sinne die Themen der kunstethnologischen Texte von A. Roth und D. Stambrau sowie der stereotypen- und quellenkritischen Arbeiten von M. Schultze und J. Steffen-Schrade. Zu Institutionen, Dynamik und Deutung von Wissensbeständen indigener Kulturen in Ibero-Amerika äussern sich I. Gareis, H. Kammler und J. Neurath. Anhand sehr unterschiedlicher Regionen belegen C. Bender und S. Lührmann in ihren Beiträgen den Dialog zwischen amerikanistischer Ethnologie und der sozial- und geschichtswissenschaftlichen Theoriebildung. Das Thema der (Re)Kontextualisierung verbindet die Beiträge von C. Augustat, anhand der musealen Darstellung einer Gemeinschaft in Venezuela, und M. Schlottner, anhand tradierter Oralität im indigenen Rundfunk South Dakotas. Die Synthese endogener und exogener Wissensbestände und Prozesse ihrer Institutionalisierung illustrieren C. Carstensen und L. Gugel an Beispielen aus dem Plateaugebiet. Den performativen und klangästhetischen Aspekten von Wissenskulturen im Wandel widmet R. Hatoum seinen Aufsatz über die interethnische Powwow-Subkultur in Nordamerika.

Karl-Heinz Kohl:
Vorwort

Sylvia S. Kasprycki:
Geachtet und wie er die Welt sah – Von Ethnologen, Missionaren und der Faszination der Dinge / Anhang: Die Sammlung Antoine-Marie Gachet – ein Bestandskatalog

Gudrun Bucher:
Die Insel Kodiak im Spiegel der Sammlung des Baron von Asch

Eike de Vries:
Aurel und Arthur Krause in Alaska – Entstehung einer Sammlung

Claudia Augustat:
Zur Musealisierung sakraler Tanzmasken der Piaroa (Venezuela)

Alexandra V. Roth:
Exquisite Match Mates – Realistische Skulpturen im Kunstschaffen der Haida

Doris I. Stambrau:
Joseph Beuys im Dialog mit Amerika – Ein „weißer“ Bruder „roter“ Künstler?

Miriam Schultze:
Überlegungen zur Darstellung fremder Lebenswelten im modernen Kinderbuch am Beispiel der amerikanischen Ureinwohner oder: Warum Ethnologen keine Kinderbücher schreiben

Jutta Steffen-Schrade:
Der Aztekin neue Kleider

Iris Gareis:
Koloniale Schulen und indigene Eliten in Mexiko und Peru

Johannes Neurath:
Ahnen im Werden – Mexikos Huichol und die Kritik des historischen Essentialismus

Henry Kammler:
Augustin und die Stiere – Eine Heiligenlegende als mündliche Quelle religiösen Wissens in San Agustín Oapan, Guerrero

Cora Bender:
„Primitive“ gegen den Staat? Eine Begegnung mit Geronimo und Pierre Clastres

Christian Carstensen:
Where the Salmon Run – Indigenous Fishing on the Columbia River and the Impact of a New Institution

Liane Gugel:
We Have Disobeyed Jehovah – Das Kirchenlied und seine Bedeutung für die Nez Perce

Rainer Hatoum:
Beyond Aesthetics – Dynamics of Musical Knowledge in the Context Powwow

Michael Schlottner:
Tuned By the Here and Now – Contextualization and Medial Representation of Spoken Words on Standing Rock

Sonja Lührmann:
„Das rote Amerika“ – Alaska und die sowjetische Debatte über die asiatische Produktionsweise

Christian F. Feest – Ein Schriftenverzeichnis

REZENSION
“Als Hommage an Christian Feest ist der Band beeindruckend. Vielen Autoren und Autorinnen merkt man die persönliche Begeisterung an, die Feest in ihnen weckte. Insofern ist es sehr zu bedauern, dass Feest sich gegen eine Fortsetzung seiner Lehrtätigkeit in Frankfurt entschieden hat, insbesondere angesichts der Impulse, die er der kleinen Gruppe EthnologInnen Nordamerikas in Deutschland gegeben hat. [...] Insbesondere AnhängerInnen der neuen Ethnic History und Cultural-Studies-SpezialistInnen werden Anknüpfungspunkte und Inspiration für ihre eigenen Forschungen finden.”
(Heike Bungert in „Amerikastudien“ 52/4/2007, 579-580)