Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften haben wenig miteinander zu tun. Das ist schade. Denn gerade in den Bereichen, in denen Physiker oder Mathematiker an die Grenzen der Vorhersagbarkeit und Beherrschbarkeit stossen, bewegen sie sich auf einem Terrain, das insbesondere die Literatur seit Jahrtausenden beackert: den weiten Raum der Dinge zwischen Himmel und Erde. Der vorliegende Band versucht einen Brückenschlag zwischen Quantentheorie, Chaos-Modell, kultureller Evolution und literarischem Wandel. Die Ausgangsfrage ist dabei: Warum wandelt sich das, was wir als Literatur definieren, über die Jahrhunderte?
Das erste Kapitel („Die Macher von Literatur“) veranschaulicht an vielen Beispielen, wie technische Entwicklungen (Buchdruck, Schreibmaschine, Computer), die allgemeine Schulpflicht, das immer stärker ausdifferenzierte Medien- und Verlagswesen, der steigende Bildungsgrad und materielle Wohlstand sowie ein Überangebot an literarischen Nischentexten und die daraus resultierenden Sättigungseffekte das Lesen und Schreiben verändern.
Das zweite Kapitel („Wie funktioniert Literatur?“) geht die Frage an, was das besondere an literarischen Texten ist, warum sie so vieldeutig sind. Die entscheidende Erkenntnis ist, dass Literatur in einem Kommunikationsraum stattfindet, der nicht wie der alltägliche Sprachgebrauch an dem Kriterienpaar Versuch und Irrtum zu überprüfen ist. Literatur stellt vielmehr eine Möglichkeitswelt dar, in der die engen Kausalitäten der Realität nichts gelten. Während sich beispielsweise eine Bedienungsanleitung an der Umwelt ausprobieren lässt und ihren Zweck erfüllt hat, wenn das Gerät funktioniert, lassen sich Geschichten wie E.T.A. Hoffmanns „Goldener Topf“ nicht an der Realität überprüfen. Sie reiben sich zwar an ihr und brauchen Wirklichkeit, damit sie ihren Reiz entfalten können, Unmögliches „möglich“ zu machen. Aber in ihrer Struktur sind literarische Texte zeitlos und akausal.
Im dritten Kapitel („Literatur und Naturwissenschaft“) werden die drei wichtigsten Konzepte der modernen Naturwissenschaften – Quantentheorie, Chaos-Modell und Evolution – kurz erklärt und auf Literatur bezogen. Berücksichtigt werden dabei auch aktuelle Ergebnisse der Hirnforschung, mit deren Hilfe die Sprachtheorien der Linguistik angelsächsischer Provenienz kritisch überprüft werden. Was hat ein Gedicht von Heinrich Heine mit der „verzögerten Wahl“ der Quantentheorie zu tun? Warum entspricht ein Buch, das tiefen Eindruck auf uns gemacht hat, einer Zustandsänderung im Sinne der Quantentheorie, und wie kann man sich das literarische System als Quantensystem begreifbar machen? Diese und ähnliche Fragen stehen im Mittelpunkt. Dem Band geht es nicht um Reduktionismus: Ganz im Gegenteil sorgen erst die modernen naturwissenschaftlichen Ansätze dafür, dass man Phänomenen wie Zufall und Kreativität adäquat Rechnung tragen kann, weil sich nur so die Besonderheiten der literarischen Deutung im Individuum und seinen Denkmöglichkeiten sowie in der Gesellschaft und ihrem Handeln verankern lassen.