"Für die Zukunft ist doch aber nichts wichtiger als ein rücksichtsloses Erinnerungsvermögen" – so der österreichische Schauspieler und Schauspiellehrer Klaus Maria Brandauer. Solch ein Vermögen stellt sich jedoch nicht automatisch ein, kann nicht vererbt werden, ist kein Versandhausartikel. Es gehört zweifelsohne zu den Aufgaben eines Historikers, den Bürger zu befähigen, mit seiner Vergangenheit und seinen Erfahrungen sinnvoll umzugehen. Für den Menschen ist es lebenswichtig, sich erinnern zu können. Erinnerungsverlust ist eine Gedächtnisstörung (die Mediziner sprechen von einer Amnesie), kürzere Bewusstseinstrübungen werden als ›Blackout‹ bezeichnet. Was für den Einzelnen noch zu verkraften sein mag, kann für die gesellschaftliche Entwicklung katastrophale Wirkungen haben. Die Negierung oder Verfälschung vergangener Erfahrungen führt zum Unvermögen, Lehren aus der Geschichte für die Gegenwart und Zukunft zu ziehen. Hier steht der Historiker in einer besonderen Verantwortung. Es ist seine professionelle Aufgabe und moralische Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass "ein rücksichtsloses Erinnerungsvermögen" erhalten, gefördert und qualifiziert wird.
Nun ist nicht nur der sich Erinnernde, sondern auch der Historiker ein subjektives Wesen – und somit nicht nur die Erinnerung, sondern auch ihre wissenschaftliche Verarbeitung, ihre Interpretation und Einordnung in die gesellschaftliche Entwicklung – bei allen objektiven Maßstäben der historischen Disziplin – subjektiv. Die Beachtung von Erinnerungen ist bei einem Hofhistoriker anders geartet als bei einem grassroot-Forscher. Im Umgang mit der historischen Erinnerung gibt es erhebliche Unterschiede und Gegensätze von Historikern im mainstream oder in der zweiten deutschen Wissenschaftskultur. "Erinnerungskultur" pflegen sowohl die einen als auch die anderen. Aber die Unterschiede sind beträchtlich.
Der mainstream artikuliert sich naturgemäß in besonderem Maße in den Medien und wirkt darum direkt bewusstseinsbildend. Einem nach der Wende 1989/90 "abgewickelten" Historiker ist der Zugang vor allem zu Fernsehen, Film, Funk und Presse weitgehend verwehrt. Zudem verfügt er nicht über die Möglichkeiten und Beziehungen, um sich bei renommierten Verlagen durchzusetzen. Für ihn ist das ›Gesellschaftswissenschaftliche Forum‹ eine Stätte, in der er diskutieren und publizieren kann. Dieses Gremium – von dem Historiker Prof. Dr. sc. Helmut Meier mit anderen in den 90er Jahren ins Leben gerufen – hat bisher viel geleistet, um die demokratische Erinnerungskultur zu fördern.
So ist verständlich, dass der 70. Geburtstag dieses seines Vorsitzenden zum Anlass genommen wurde, auf einem wissenschaftlichen Kolloquium über die Erinnerungskultur in der Gegenwart und die Verantwortung des Historikers zu diskutieren. Diese Veranstaltung wurde am 11. September 2004 in Berlin – gemeinsam mit dem Verein "Helle Panke" – durchgeführt. Es waren frühere Schüler und Kollegen, aber auch gegenwärtige Mitstreiter von Helmut Meier anwesend. Entsprechend der unterschiedlichen disziplinären Ausrichtung der einzelnen Teilnehmer waren die diskutierten Probleme höchst vielfältig. Die thematische Palette reicht von theoretischen Grundproblemen der Erinnerungskultur bis zu detaillierten historischen Ereignissen in ihrer Reflexion als gegenwärtige Erinnerung. Dem versucht die Gliederung des vorliegenden Bandes in Hauptabschnitte, denen die einzelnen Beiträge zugeordnet worden sind, zu entsprechen. Und es gibt auch strittige Auffassungen – beispielsweise über den Gebrauch bestimmter Begriffe (so gerade auch zum Begriff "Erinnerungskultur") – wozu es weiterer Diskussion bedarf.
Es muss vermerkt werden, dass die nachstehend publizierten Beiträge nicht mehr nur Redefassungen sind, wenngleich es vielleicht manchem Beitrag anzusehen ist, dass er auf einem mündlichen Vortrag beruht. Es liegt also kein Sitzungsprotokoll vor. So wird auch die interessante Diskussion nicht wiedergegeben – falls nicht dieser oder jener Autor Aspekte der Diskussion in seinen Beitrag eingearbeitet hat. Angesichts mancher Diskrepanzen in der Themenbehandlung sei darauf verwiesen, dass jeder Autor für seinen Beitrag inhaltlich verantwortlich ist. Da die meisten Teilnehmer der Veranstaltung die zweite deutsche Wissenschaftskultur repräsentieren, dürften auch einige Mentalitäten (von Abwehr bis zu allergischen Reaktionen) verständlich sein, die sich aus der gesellschaftlichen Position der Betreffenden ergeben, die durch soziale und geistige Ausgrenzung charakterisiert ist.
Die "Rücksichtslosigkeit" im Umgang mit Erinnerungen, die Brandauer im eingangs aufgeführten Zitat verlangt, ist unterschiedlich ausgeprägt – aber allen ist das Bestreben gemeinsam, dazu beizutragen, dass keine historisch wertvolle Erinnerung der Vergessenheit anheim fällt. Verschiedene Aspekte der Erinnerungskultur bedürfen der weiteren Forschung und Erörterung. Insofern ist der vorliegende Band als Anregung zu verstehen, sich bestimmten geschichtstheoretischen und konkrethistorischen Problemen weiter zu widmen – mit dem Ziel, die Erinnerung für die Lösung gegenwärtig anstehender gesellschaftlicher Widersprüche effektiver zu nutzen.