Von der Literaturgeschichtsschreibung weitgehend übersehene, verdrängte Schriftstellerinnen und Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts aufzuspüren, sie dem Vergessen zu entreissen, in das sie eine dominant männlich orientierte Überlieferung verstossen hatte, ist Ziel einer Buchreihe, die unter dem Titel „Spurensuche. Vergessene Autorinnen wiederentdeckt“ literarisch eindrucksvolle Zeugnisse ihres Wirkens der Öffentlichkeit wieder zugänglich machen will. Herausgeberin der Reihe ist die Berliner Germanistin und Autorin Dr. Monika Melchert, die zugleich die Reihe mit einer Monographie über die Dramatikerin Ilse Langner eröffnet.Ilse Langner hat Gestalten starker Frauen auf die Bühne gestellt; Charaktere, die, allen schwierigen Umständen zum Trotz, ihre Kraft aus der eigenen Identität, aus ihrem Frausein entwickeln. Sie schuf einen Frauentyp, der sich „nicht unterkriegen“ lassen will; Frauenfiguren, die nicht, wie gewöhnlich, das „schwache Geschlecht“ darstellen. Fast immer, über sechs Jahrzehnte hindurch, sind ihre Frauengestalten Sachwalterinnen einer praktischen, einer weiblichen Vernunft. Wer war diese Schriftstellerin, die bereits als Kind in der schlesischen Provinz begann, schöpferisch zu gestalten und die das Schreiben bis ins neunte Lebensjahrzehnt aufrecht erhielt? Lässt sich erklären, warum sie heute kaum einer mehr kennt? Dabei hat sie doch ein Leben lang daran gearbeitet, bekannt und anerkannt zu werden. Ilse Langner war eine Autorin, die ernsthafte Angebote einbrachte, wie eine Frau ihr Leben produktiv machen kann, und die ihren Aktionsradius voll ausschritt. Doch diese Vorschläge sind eigentlich nur in den zwanziger und frühen dreissiger Jahren angenommen worden, solange die Weimarer Republik und das Umfeld der ersten deutschen Frauenbewegung die Bedingungen dafür boten. Hier spielte die Mitgliedschaft der Schriftstellerin im Soroptimist-Club eine beträchtliche Rolle, einer Vereinigung berufstätiger, unabhängiger Frauen im Berlin der Weimarer Republik, die sich in solidarischer, „schwesterlicher“ Verbundenheit gegenseitig unterstützen wollten, ihren Platz in einer von Männern beherrschten Gesellschaft zu behaupten.Ilse Langner, die früh geheiratet hatte, nicht zuletzt, um aus der zwar geliebten, doch als Enge empfundenen schlesischen Heimatstadt Breslau herauszukommen, war durch die berufliche Bindung ihres ersten Mannes an das Stickstoffwerk Piesteritz doch wiederum nur in die Provinz gelangt. Sie begriff schnell, dass sie sich als Schriftstellerin nur entfalten konnte, wenn sie in der Metropole lebte. So nutzt sie die Trennung aus der unerfreulichen Ehe dazu, sich im räumlichen wie persönlichen Sinne frei zu machen - und geht 1928 nach Berlin. Berlin wurde nun in ihrem Leben der zentrale Raum; es war der Ort, der sie anzog und kreativ machte, der ihr in den zwanziger Jahren die ersten grossen Erfolge ermöglichte - und ihr nach 1945 ein Comeback auf dem Theater verweigerte. Berlin war zugleich die Stadt ihrer gekränkten Liebe, die ihr die Welt öffnete und am Ende doch vieles schuldig blieb.
In den Jahren der Weimarer Republik aber schien gerade hier alles möglich zu sein. Berlin war ein verheissungsvoller Ort. Es war die grosse Zeit von Max Reinhardts Theater-Imperium. Wer bei ihm eine Uraufführung herausbrachte, musste als eine Theater-Hoffnung gelten. Die zwanziger Jahre in Berlin waren das Jahrzehnt, in denen die Stadt tatsächlich Weltgeltung als Kunstmetropole errungen hatte. Ilse Langner wusste das; auch deshalb ging sie hin. Sie hing Berlin mit hingebungsvoller Liebe, ja zeitweise mit geradezu mythischer Sinnzuschreibung an. Berlin wird die Stadt, in der Ilse Langner den grössten Teil ihres Schriftstellerlebens verbringen sollte, in der ihr aussergewöhnlich vielseitiges, umfangreiches Werk entsteht - zu dem neben über dreißig Dramen und Dramenfragmenten auch Romane, Erzählungen und Gedichte gehören sowie eine grosse, breitgefächerte Essayistik. Die originärste Leistung hat Ilse Langner jedoch als Dramatikerin erreicht. Mit ihren sozialkritischen Zeitstücken, Antikriegs- und Emanzipationsvisionen, ihren Antikeadaptionen, in denen immer wieder die Gestalt einer Iphigenie konfliktstrukturierend auftritt, hat sie Modelle weiblicher Existenz in Grenzsituationen wie Krieg und Nachkrieg zur Debatte gestellt. Sie war eine Schriftstellerin, die in allen Zeiterscheinungen und zeitgeschichtlichen Zuständen die dramatischen Zuspitzungen, die aus dem Innersten des Menschen rührenden Grunderfahrungen, die schicksalhaften Grundmuster herauszuspüren wusste und sie in ihren Werken gestaltete. Die Grundkonstellation „Frau und Krieg“ wurde ihr für das 20. Jahrhundert eine solche Ur-Erfahrung. Dies war und ist für ihre gesamte Epoche ein solch brisantes Thema, dass man die Autorin schon allein deshalb nicht vergessen sollte, selbst wenn sie nicht mit einer derartigen Vehemenz und künstlerischen Intensität geschrieben hätte. Der Romancier Arnold Zweig förderte die begabte junge Dramatikerin, die Schauspielerin Tilla Durieux stellte ihr Abtreibungsstück Katharina Henschke in öffentlichen Lesungen vor, der Regisseur Erwin Piscator engagierte sich noch vom New Yorker Exil aus für ihr bedeutendstes Nachkriegsstück Heimkehr. Immer wieder forderten Ilse Langner vor allem Schicksale von Frauenfiguren heraus, die in exemplarischer Weise mit den sozialen Kämpfen des 20. Jahrhunderts verbunden waren. Eine ihrer stärksten Obsessionen war das Thema vom Fluch oder Segen der modernen Naturwissenschaft und die Verantwortung des Wissenschaftlers, spezifisch der Frau in der Wissenschaft. Lange vor Dürrenmatts Die Physiker griff sie in dramatischen Konstellationen selbst die Janusköpfigkeit der Atomenergienutzung auf. Wenn Anfang der dreissiger Jahre in ihrer Komödie Amazonen Odysseus zur Königin Penthesilea sagen wird: „Sie sind die Frau von Morgen, die Frau, die erst kommen wird!“, so drückt sich darin ihre unbändige Hoffnung aus, den Frauen werde es in künftigen Zeiten endlich möglich sein, ihren eigenständigen Beitrag zu einer menschlicheren Entwicklung der Gesellschaft einzubringen.Noch immer ist der grösste Teil ihres Werkes für die Literaturgeschichte eine Terra incognita. Dabei liegt die Konzentration ihres Schaffens auf den zahlreichen Dramen – eine Tatsache, die ungewöhnlich genug ist für eine Schriftstellerin. Allerdings repräsentierte sie gerade in der Zeit der Weimarer Republik damit eine bemerkenswerte Tendenz: Nie wieder schrieben so viele Frauen für das Theater wie zwischen den beiden Weltkriegen. Der aufkommenden Barbarei des Faschismus in Deutschland, der auch ihre Stücke zum Opfer fielen, entzog sich Ilse Langner 1933 zunächst durch eine mehrmonatige Reise um die Welt. Später lebte und schrieb sie, zum öffentlichen Schweigen gezwungen, weiterhin in Berlin. Reisen, vor allem in den ostasiatischen Raum, die auch bemerkenswerte Zeugnisse der Reiseprosa hervorbrachten, blieben für sie das adäquate Mittel, sich zur zeitgenössischen Welt ins Verhältnis zu setzen. Unter der Vielzahl ihrer Stücke ragen fünf Dramen als bedeutsamste deutlich heraus: Frau Emma kämpft im Hinterland, Amazonen, Iphigenie kehrt heim, Klytämnestra sowie Heimkehr. Ein Berliner Trümmerstück. Doch nur ein Teil der Literatur von Ilse Langner ist veröffentlicht. Das seit fünfzig Jahren als verschollen geltende Stück Angst (1949) konnte von der Autorin der Monographie wieder aufgefunden werden. Das Gesamtwerk ist zu einem beträchtlichen Teil noch unerschlossen, der Ilse-Langner-Nachlass im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar mit 76 Archiv-Kästen stellt eine Fundgrube dar. Einer zu Unrecht vergessenen Schriftstellerin soll Gerechtigkeit widerfahren. Eine Frau wird vorgestellt in ihrem facettenreichen Werk wie in ihrem Leben, das exemplarisch für eine weibliche Schriftstellerexistenz im 20. Jahrhundert steht.