Die Forschungsliteratur zu Richard Wagners "Tristan und Isolde" ist bis auf den heutigen Tag in literaturwissenschaftliche Untersuchungen zum Textbuch ohne Einbeziehung der Musik einerseits, in musiktheoretische Abhandlungen, in denen die Harmonik der Partitur systematisch entschlüsselt werden soll, andererseits aufgeteilt. Kaum einmal aber ist versucht worden, diese beiden Hälften zu einem Ganzen zu verbinden, und dies, obwohl Wagner selbst betonte, daß seine Musik nur "im vollsten Einverständnisse mit der dichterischen Absicht" verständlich ist und sogar hervorhob, daß ihm im Tristan eine noch "innigere Verschmelzung des Gedichtes mit der Musik" gelungen sei als in seinen "früheren Arbeiten".
Den entscheidenden Hinweis für diese Untersuchung liefert darum weder die Literatur- noch die Musikwissenschaft, sondern Claude Lévi-Strauss, nach dem die Strukturanalyse der Mythen nicht allein "zum ersten Mal durch Musik erfolgte", sondern Wagner sogar der "Vater der strukturalen Analyse der Mythen" gewesen sei. Oft zitiert, doch nie eingelöst, ist diese Auffassung nun zum Leitsatz dieser Arbeit erhoben worden: Wenn die Analyse des Textbuches das Mythem "Eros und Thanatos" als die "Handlung" begründend herausstellt, dann erkennt sie davon ausgehend in den beiden symbolisch-dichotomen Leitmotiven der Partitur und ihren entweder progressiv oder regressiv ausgerichteten Varianten die kompositorische Entsprechung des Mythems.