In der Wiener Kulturgeschichte gab es wohl keinen bekannteren und spitzzüngigeren Medienkritiker als Karl Kraus. In seiner Analyse dokumentiert Simon Ganahl, dass der Kraus’schen Pressekritik ein philosophischer Ansatz zugrunde liegt, der mit Immanuel Kants Aufklärungsdiskurs verknüpft ist. Seit Anbeginn seines Schreibens stellt Kraus das Kant’sche Ideal einer Subjektivität, die imstande ist, autonom zu denken und zu handeln, ins Zentrum seiner Texte. Die Tragweite der Klage, wonach die Zeitungen die Phantasie ruinieren, offenbart sich erst in diesem Zusammenhang, zumal es die verbindende Leistung der Einbildungskraft ist, die in der Kant’schen Erkenntnislehre Urteilsbildung ermöglicht. Für Kraus gibt allein die Sprache als Kulturspeicher dem Ich die Möglichkeit, sich zu befreien.
Wie stichhaltig, wie glaubwürdig ist nun die Pressekritik des Satirikers Karl Kraus? Lassen sich die schweren Vorwürfe gegen die Zeitungen der Wiener Jahrhundertwende faktisch belegen? Durch präzise Inhalts- und Sprachstilanalyse kommt der Autor zu dem Schluss, dass die Anschuldigungen durchaus berechtigt waren. Während sich die Arbeiter-Zeitung, die Kraus als 'moralische Kraft' lobte, durch Geradheit und eine an Die Fackel gemahnende Entlarvungstechnik auszeichnete, changierte die Neue Freie Presse, das Kraus’sche Hauptangriffsziel, zwischen faktenarmen Stimmungsberichten und Leitartikeln, die den Anschein der Objektivität und der humanistischen Bildung gezielt einsetzten, um Meinungen zu lenken.