»Aber was rede ich. Wer hört noch zu.« Mit dieser ernüchternden Frage endet ein Essay von Günter Grass aus dem Einheitsjahr 1990. Die Antwort, warum Grass dennoch engagiert blieb und bleibt, liefert der Nobelpreisträger in einem oft wiederholten politischen Credo, das mühelos auf sein gesamtes Schaffen übertragen werden kann: »Weil es gesagt sein muß«.
Grass mischt sich spätestens seit dem Mauerbau 1961 öffentlich in die Politik ein, sei es als Redenschreiber für Willy Brandt, Wahltrommler für die Es-Pe-De oder als gegenwartskritischer Essayist. Das so bis heute entstandene umfassende Material untersucht Timm Niklas Pietsch in diesem Buch, wobei er Grass’ politische Texte als eigenständigen Werkbestandteil betrachtet, deren Entwicklungslinien er mit ständigem Seitenblick auf das Prosawerk vom Stück Die Plebejer proben den Aufstand bis zur Novelle Im Krebsgang nachvollzieht. Der Autor füllt damit eine markante Leerstelle in der Grass-Forschung, die dem öffentlich redenden Poeten noch immer kritisch gegenübersteht. Die ›Theorielosigkeit‹, die Grass in der zeitgenössischen Rezeption der 1970er Jahre vorgeworfen wurde, hinterfragt Pietsch kritisch.
Der Autor kann erstmalig auch die bisher unveröffentlichte politische Korrespondenz von Grass u.a. mit Willy Brandt und Horst Ehmke miteinbeziehen. Dabei macht er den Stellenwert des Briefes im politischen Wirken von Grass deutlich.
Bei der Darstellung von Grass Rede-Engagement führt Pietsch den neuen Begriff des ›Rede-Essays‹ als Gattungsbezeichnung ein, um den Stil von Grass zu charakterisieren. Das letzte Kapitel des Buches enthält ein Interview mit Grass, in dem der Nobelpreisträger zu seinem rednerisch-politischen Wirken Auskunft gibt. Er bestätigt, dass seine Stellungnahmen ›Mischformen‹ seien aus appellativer Rede und reflexivem Essay, die er für einen unverzichtbaren Bestandteil seines Schreibens hält.