Lügen die Dichter? Dieser antike Topos schien in der Fiktionalitätsdebatte der siebziger Jahre erledigt. Wie oft er bis heute für eine poetologische Standortbestimmung produktiv gemacht wird, zeigt sich, wenn man ein faszinierendes, bisher wenig beachtetes Grenzgängergenre deutschsprachiger Gegenwartsliteratur befragt: die Poetik-Vorlesungen, in denen Schriftsteller seit einem knappen halben Jahrhundert über sich, ihr Werk und die Welt reflektieren.
Auf deren Basis wird ein Drei-Phasen-Lügenmodell entworfen, das – methodisch unkonventionell – Strömungen der Literatur, Literaturkritik und Literaturtheorie der letzten Jahrzehnte gegenseitig beleuchtet und miteinander verschränkt. Es ermöglicht eine neue Sichtweise auf die Romane Christoph Ransmayrs und W.G. Sebalds: Mit Rückgriff auf die kunst- und kulturwissenschaftlichen Konzepte des Gerüchts, des Schwindels und der Unschärfe kann eine Widerständigkeit des Erzählens propagiert und ein ethisches Potential entdeckt werden, das in einem Schlußkapitel mutig auf die Ebene der Literaturwissenschaft transferiert wird: ein neues Selbstbewußtsein in der „Poet(h)ik der Literaturwissenschaft“, die sich ihres Appellcharakters bewußt ist und zudem den Literaturwissenschaftler in die Verantwortung miteinbezieht.