Die Verwissenschaftlichung der Physiognomik im 19. Jahrhundert vollzieht sich im Kontext einer zunehmend pessimistischen Anthropologie. Mit der Evolutionstheorie wird der vormals theologisch verbürgte Abstand zwischen Mensch und Tier zu einer flexiblen Grauzone, in der humane und nichthumane Merkmale neu definiert werden. Kriminalanthropologie und Psychiatrie erweitern die physiognomische Formel: Körperbau und Charakter erscheinen kongruent, und psychische Anomalien werden auf eine biologische Basis zurückgeführt.
Die Physiognomik liefert dabei ein kollektivsymbolisches Reservoir, das – von Lavater über Carus bis zu Lombroso, Nordau und Kretschmer – den Rückgriff auf Stereotypen ermöglicht. Der Schriftsteller entwickelt sich zum bevorzugten Untersuchungsobjekt, weil Text und seelisch-körperliche Verfasstheit sich wechselseitig zu bestätigen scheinen: Literatur wird lesbar als Teil einer psychiatrischen Fallgeschichte. An Cesare Lombrosos Atavismustheorien und Max Nordaus Modellen biologischer Abweichung weist der Band eine symptomatische Konstellation nach, die sich auch nach 1900 im naturwissenschaftlichen Deutungsanspruch kultureller Phänomene fortsetzt.