„Vivit, non vivit“ – dieses vielzitierte Wort über Kaiser Friedrich II. steht am Anfang der berühmten Sage vom schlafenden Kaiser im Kyffhäuser, der einst wiederkommen soll, um des Reiches Herrlichkeit zu erneuern. Weniger be-kannt ist allerdings der Text, aus dem es stammt: Eine apokalyptische Weis-sagung des 13. Jahrhunderts, die der erythräischen Sibylle zugeschrieben wurde. Ein Text, der mit mehr als 72 überlieferten Abschriften zu den am weitest verbreiteten prophetischen Texten des Spätmittelalters gehört. Die Studie von Christian Jostmann unternimmt eine angemessene Neubewertung dieses Vaticiniums, das in den Quellen zumeist als „Sibilla Erithea“ bezeich-net wird. Sie setzt sich kritisch mit der Edition durch Holder-Egger von vor 100 Jahren und der wissenschaftlichen Diskussion seither auseinander, arbeitet die gesamte handschriftliche Überlieferung auf und entwirft ein differenzierteres Bild der Textgeschichte. Weiter wird die Rezeption untersucht und eine detaillierte inhaltliche Analyse des Weissagungstextes vorgenommen, die es ermöglicht, die Prophezeiungen in ihrem historischen Kontext neu einzuordnen. Demnach ist die Sibilla Erithea nicht, wie gemeinhin angenommen, in joachitischen Zirkeln Süditaliens entstanden, sondern an der päpstlichen Kurie. Dies gibt Anlass zu weitergehenden Überlegungen hinsichtlich Funktion und Pragmatik von Prophetie im Hochmittelalter. Im Anhang werden, neben einem umfangreichen Handschriftenkatalog, wichtige Redaktionstufen der Sibilla Erithea erstmals bzw. neu ediert.
Die Arbeit von Christian Jostmann wurde mit dem Dissertationspreis 2005 der Westfälisch-Lippischen Universitätsgesellschaft (Bielefeld) ausgezeichnet.