Herders charakteristische Leistung liegt in der Entdeckung der Bedeutung von Geschichte, Kultur und Sprache für die Entwicklung der menschlichen Vernunft. Doch gerade diese Entdeckung wurde bald nach Herders Tod zum Fundus einer dogmatischen Gesinnung, die in Deutschland den Interessen einer nationalistischen Reaktion diente. Die bis heute marginale Wahrnehmung Herders sowohl in den Kulturwissenschaften als auch in der Philosophie hat ihre Gründe vor allem in dieser unglücklichen Wende der Rezeptionsgeschichte. (Im Jubiläumsjahr 2003 – Herder starb am 18.12.1803 – gab es eine Reihe von Versuchen, die losen Fäden der Überlieferung erneut aufzugreifen und die Denkanstösse, die Herder der aufgeklärten Welt des späten 18. Jahrhundert eingab, mit den Augen des 21. Jahrhunderts neu zu prüfen. ) Herders Einsicht, dass auch die Grundbegriffe unseres Denkens, ‚Bildwörter’ sind, nötigt dazu, sich auf die sprachlich-historische Horizontgebundenheit unserer Weltorientierung einzulassen. Erst der Verzicht auf unerschütterliche Fundamente unseres Denkens öffnet den Weg zu einer die individuellen und kulturellen Besonderheiten historischer Formationen würdigenden Humanität. Auf diesem Weg liegt das noch weitgehend unerschlossene Potential des herderschen Denkens. Die Beiträge dieses Bandes verstehen sich als Einladung zu einem neuen transdisziplinären Gespräch über die Aktualität einer der verdrängten Vaterfiguren der europäischen Moderne.