In der vorliegenden Arbeit wird versucht, das den Schlossgeschichten Eduard von Keyserlings zugrunde liegende poetologische Konzept hauptsächlich dadurch zu ermitteln, dass die Entwicklung von den naturalistischen Frühwerken bis zur ersten Schlossgeschichte rekonstruiert wird. So sind zunächst Keyserlings Debütroman, Fräulein Rosa Herz, und sein zweiter Roman, Die dritte Stiege, im Zusammenhang mit dem naturalistisch-szientistischen Konzept der Wirklichkeitswiedergabe zu interpretieren. Es werden dann Keyserlings Essays, Kurzgeschichten und Dramen, die zwischen Die dritte Stiege und Beate und Mareile veröffentlicht wurden, näher betrachtet. Auf der Grundlage der literarischen und nichtliterarischen Frühwerke Keyserlings wird dann Beate und Mareile interpretiert, wobei deutlich gemacht werden soll, dass das naturalistisch-szientistische „Realismus“-Konzept der Frühwerke trotz grosser thematischer Unterschiede auch in dieser Schlossgeschichte in einer im Wesentlichen unveränderten Form konsequent umgesetzt wird. Anschliessend wird durch Beispielanalysen von Abendliche Häuser und Nicky aufgezeigt, dass das Konzept von Beate und Mareile auch den späteren Schlossgeschichten zugrunde liegt, wenngleich das Hauptinteresse des Autors und der Schwerpunkt der Darstellung sich teilweise verlagern.
Weil der szientistisch orientierte Naturalismus, der die Grundlage für Keyserlings Literaturkonzept bildet, von den literaturwissenschaftlichen Untersuchungen bislang vernachlässigt wurde, ist es unvermeidlich, zunächst näher zu erklären, wie sich das szientistische „Realismus“-Konzept entwickelt hat. Dafür werden im ersten Teil der Arbeit die sozialen und kulturellen Voraussetzungen der literarischen Rezeption der Naturwissenschaft und die verschiedenen Formen der Naturwissenschaftsrezeption im Naturalismus einschliesslich des szientistischen „Realismus“-Konzepts zusammengefasst. Um die konkreten Umsetzungsformen der szientistischen Literaturkonzeption zu verdeutlichen, werden dann drei naturalistische Prosawerke, Die Versuchung von Wilhelm von Polenz, Wer ist der Stärkere? von Conrad Alberti und Meister Timpe von Max Kretzer, interpretiert.