Romane zu Mauerfall und deutscher Einheit wurden immer wieder als „Schelmen- bzw. Pikaroroman“ bezeichnet. Doch wie berechtigt ist diese Einordnung? Schon die Abgrenzung einer traditionellen Gattung (die spanische novela picaresca und z.B. Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch) erweist sich als schwierig. Noch kontroverser wird die Verwendung des Begriffes diskutiert, seit man den Pikaro für moderne Romane wie z.B. Thomas Manns Felix Krull oder Günter Grass’ Blechtrommel wiederentdeckte. Bisherige Vorschläge schematisierender Merkmalskataloge (z.B. Antiheld, Ich-Erzähler, Episodenstruktur) entfernen die Gattung aus ihren literaturhistorischen Bezügen und sagen zu wenig über das ästhetische Potential der modernen Pikaros aus. In der vorliegenden Studie wird eine überzeitliche Struktur an der Pikaro-Figur festgemacht. Auf der Grundlage von Michail Bachtins karnevalisierter Literatur erscheinen die von der Figur ausgelöste Ambivalenz und ihre Verankerung in der Lachkultur als wesentlich. Ihr Mechanismus richtet sich gegen das Pathetische, Eindeutige und Abstrakte, gegen Ideologien und Machtstrukturen. Dagegen lenkt der Pikaro den Blick auf das Körperliche, Konkrete und Ambivalente. Die Textanalysen von Thomas Brussigs Helden wie wir (1995), Fritz Rudolf Fries’ Die Nonnen von Bratislava (1994), Günter Grass’ Ein weites Feld (1995) sowie Jens Sparschuhs Der Zimmerspringbrunnen (1995) zeigen, wie das Pikareske und das Karnevaleske verwendet werden, um die Macht der Vergangenheit zu brechen und monologische Tendenzen im Diskurs zu DDR, Wende und Einheit zu problematisieren.