Teilnehmende AutorInnen und IllustratorInnen:

Nessa Altura, Sybille Baecker, Dirk Becker, Anne-Kathrin Binz, Meike Büttner, Kai-Kevin Dietrich, Anja Es, Marga Fedder, Barbara Fellgiebel, Meinke Flesseman, Ulf Großmann, Ines Heckmann, Christian Heiß, Jasmin Herold, Edda Holland-Sachse, Matthias Jentzsch, Franziska Kelly, Gisela Klaßen, Klau s ens, Lars Koenen, Veronika Kramer, Simone Labonté, Thomas Laessing, Monique Lhoir, Wolfram Liebing, Merli Susanne Müller, Annette Neulist, Falk Osterloh, Karin Pfeiffer, Sásquia Phillips, Helgard Schiffer, Regina Schlehek, Eva Schneider, Gregor Schürer, Frauke Schuster, Sylvia Schwartz, André Steinbach, Ingeborg Struckmeyer, Nicola Terboven, Alexa Testa, Alexa Thiesmeyer, Melanie Tso, Anita Voncina, Gudrun Witt, Bernd Ziemens, Cornelius Zimmermann

Mit diesem Text von Barbara Fellgiebel fing alles an:

Mister Minit
Sie stand im gleißenden, vorsichtig wärmenden Sonnenlicht der Märzsonne am Tresen des Schusters und wartete geduldig auf die neuen Absätze ihrer abgelaufenen roten Schuhe. So dringend, dass sie darauf warten musste, war es eigentlich gar nicht, denn so oft trug sie die Schuhe nun auch wieder nicht. Doch irgendetwas ließ sie bleiben und warten; vielleicht die Tatsache, dass sie frühestens in 14 Tagen wieder hier vorbeikommen könnte und dann womöglich vergessen würde, die Schuhe abzuholen.
Aber was es auch war, sie genoss diese herrlichen, ungewöhnlichen Sonnenstrahlen, fühlte, wie sich ihr Körper wohlig erwärmte - und konnte sich plötzlich vorstellen, mit Mr. Minit ins Bett zu gehen. Sie zwinkerte kurz mit den Augen, kniff sich verstohlen in den linken Oberarm und räusperte sich, all dies tat sie, um sich zu vergewissern, dass sie tatsächlich hier an diesem sonnigen Vorfrühlingstag stand und Gefühle dieser Art hatte. Sie, ausgerechnet sie, die, zum großen Kummer ihres Mannes, an Sex seit Jahren keine echte Freude mehr hatte. Ja, sie empfand ihn sogar als lästige Bürde ihrer Ehe. Um ehrlich zu sein, war sie jeden Abend, wenn sie ins Bett ging, froh, wenn ihr Angetrauter bereits wohlig vor sich hinschnarchte; anstatt frisch geduscht, erwartungsvoll in eine Duftwolke teuren Herrenparfüms gehüllt, seine geile Ungeduld kaum beherrschen könnend, auf sie zu warten.
Nein, nein, Sex hatte sie für sich abgehakt. Vor Jahren schon. Warum, wusste sie auch nicht. Es lebte sich bequemer so, redete sie sich jedenfalls ein. Weniger Komplikationen, weniger Enttäuschungen, weniger Frustration. Und hier stand sie nun, fühlte wohlige Wärme zwischen ihren Beinen, Schmetterlinge im Bauch - Wahnsinn!
Mr. Minit arbeitete nichtsahnend, konzentriert, gewissenhaft an ihren Schuhen. Er ließ sich weder durch die leicht hysterische Kundin aus der Ruhe bringen, die unbedingt sofort ihre neuen, zu engen Krokodillederschuhe weiten lassen wollte, noch durch seinen Kompagnon, der gerade jetzt seinen Tippzettel ausfüllen musste und den Kollegen ständig um dessen Meinung bat - wahrscheinlich, um im Falle des Verlierens einen Sündenbock zu haben. Auch die grölende Musik, die aus dem billigen Transistor über seinem Kopf erschallte, konnte seine stoische Ruhe nicht stören.
Sie merkte, wie sehr ihr jede Miene, jede seiner wenigen, sicheren Bewegungen zusagte. Plötzlich wurde ihr sein unverschämt gutes Aussehen bewusst, und sie fühlte eine lange nicht verspürte innere Erregung in sich aufsteigen, deren Stärke sie sich weder entziehen konnte noch wollte. Ob sie in die Wechseljahre kam? Altersmäßig könnte es wohl stimmen, aber ansonsten hatte sie keinerlei Symptome, keine Hitzewallungen, nach wie vor ihre Periode, na ja, vielleicht war sie in letzter Zeit ein wenig vergesslicher geworden, aber ansonsten…?
"Wie er arbeitet, so liebt er auch", dachte es in ihrem Kopf und sie wusste auf einmal genau, wie er im Bett sein würde: behutsam, bedächtig, zärtlich, mit gezielten Bewegungen, geduldig ihre Erregung genießend, steigernd… Wenn das keine Hitzewallung war, die da in ihr aufstieg und sich partout nicht unterdrücken ließ. Sie versuchte Haltung zu bewahren und fächelte sich so elegant wie möglich Luft zu. Ihre Atemzüge wurden kürzer und heftiger.
Mr. Minit schaute kurz auf und warf ihr einen besorgten Blick zu. Konnte oder wollte er die Signale ihres Körpers nicht richtig deuten? Zugegeben, sie war vielleicht ein paar Jahre älter als er, aber noch lange nicht jenseits jeder Erotik…
Ungläubig registrierte sie ihre überraschenden, so lange tot geglaubten Gefühlsanwandlungen und merkte, wie gut ihr diese Veränderung tat, wie jung und frech und unternehmungslustig sie sich plötzlich fühlte. Sie war auch früher nicht der wild drauflos flirtende Typ gewesen, der in jedem männlichen Wesen einen potentiellen Sexpartner witterte. Im Gegenteil - sie war eher zurückhaltend, unterschwellig sensuell; und der feurige, mediterrane Männertyp war ganz und gar nicht ihr Fall, hatte immer schon eher eine abstoßende, unangenehme Wirkung auf sie ausgeübt.
Doch Mr. Minit war anders. Nur merkte er leider nicht, wie stark sie auf ihn reagierte. - Ob ich ihn zum Espresso einladen soll? Natürlich ist das plump und aufdringlich, allerdings kann ich ja nicht einfach über den Tresen springen und ihn vernaschen, haderte sie mit sich selbst.
Während sie versuchte, allen erforderlichen Mut aufzubringen, reichte er ihr die roten Schuhe. Mit den perfekten Absätzen sahen sie fast aus wie neu.
Bedauernd merkte sie, wie kein Wort über ihre Lippen kam. Immer noch erregt, bezahlte sie, konnte ihm aber wenigstens ein herausforderndes, unverschämtes Grinsen zuwerfen. Süffisant lächelnd drehte sie sich um, schwang ihre gerundeten Boticelli-Hüften zum ersten Mal in ihrem Leben bewusst - und schritt von dannen.
Sie hatte schließlich noch mehr Schuhe, die neue Absätze gebrauchen konnten…