'Das Schloss' ist in seiner überlieferten Form so gut wie unerforscht. Zu Kafkas Lebzeiten ging es nicht in den Druck. Erst Max Brod machte es posthum publik. Der Lesetext, den er und andere nach ihm erstellten, beseitigte ein Moment, das für 'Das Schloss' konstitutiv ist: seine handschriftliche Verfaßtheit.
Dem Kafkaschen Entwurf fehlen ein erster Anfang und ein letztes Ende. Er zeigt sich stark von den Zufällen des Schreibens mitgestaltet. Jedes Detail behauptet einen starken Eigenwert gegen das Gesamte. Aus diesen Befunden zieht Kölbel eine angemessen radikale Konsequenz. Nur mittels einer wort- und schriftgenauen Lektüre läßt sich der Erzähl- und Schreibweise Kafkas beikommen. Erst die intensive Arbeit am Wort macht deren komplexe Gestalt und literaturtheoretische Bedeutung greifbar. Das 'Schloss'-Manuskript drängt sich für einen solchen mikrologischen Zugriff auf, verzeichnet es doch derart spektakuläre Änderungen wie den Wechsel des Erzählpronomens. Ausgehend von ihm werden die Erzählrede in ihrer konstruierenden Kraft, der Erzähler als subjektkritische Instanz und der Protagonist als kriminalisierter Arbeitsverweigerer bedacht.
Kafka erscheint dabei als Volkskundler, der ein zugleich soziales wie literarisches Feld erforscht. Er entwirft und reflektiert menschliches Verhalten, wie es in verwalteten Gesellschaften, nachdem die Bürokratie die Funktion des Himmels übernommen hat, wahrscheinlich ist. Instrumentell wie sie organisiert sind, erhärten sie durchweg den Verdacht, falsch und verlogen zu sein. Kafka erprobt dagegen Möglichkeiten, diese im Sozialen verlorene Wahrhaftigkeit mittels der Lüge, d.h. literarisch zu retten.
Insgesamt betritt Kölbels Studie ein Neuland, das die Franz Kafka-Ausgabe bei Stroemfeld durch die Dokumentation der Handschriften im Faksimile erst zugänglich gemacht hat. Die Literaturwissenschaft wagte sich bisher nur zögerlich auf dieses Terrain. Um so mehr können Kölbels Überlegungen für die Erforschung Kafkas und der modernen Literatur als richtungsweisend gelten.

Der Autor:

Martin Kölbel wurde 1969 in Bad Kreuznach geboren, studierte deutsche Literaturwissenschaft und Philosophie in Berlin, Freiburg im Breisgau und Paris. Zuletzt arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Mannheim und am Heidelberger Institut für Textkritik.