Der in Frankreich und in Deutschland ausgezeichnete
Autor und Übersetzer Georges-Arthur Goldschmidt
(zuletzt Joseph-Breitbach-Preis 2005, Prix France
Culture 2004) hat mit seinen autobiographischen Erzählungen
und seinen philosophisch-essayistischen
Schriften Werke vorgelegt, die in ihrer Einzigartigkeit
bisher noch kaum literaturwissenschaftlich gewürdigt
wurden.
Das Buch von Tim Trzaskalik ist der erste Versuch,
beide Werkteile des gegenwärtig wohl bedeutendsten
Vermittlers zwischen dem Deutschen und dem Französischen
zusammenzulesen. Es geht um die Rekonstruktion
einer Komposition, die Sinn erzeugt und
Anweisungen zur Lektüre gibt; die zeigt, wie zu lesen
sei.
Goldschmidt beschreibt in seinem Essay Der bestrafte
Narziss das Verfahren der Umkehrung der Zeichen,
die Errichtung einer Gegensprache, ein Prozedere, das
in seinen Erzählungen vorgeführt wird. In ihnen wird
die Kindheit des 1929 in Hamburg geborenen Autors
jüdischer Herkunft erzählt und zugleich erst als diese
literarische Schrift erfunden. Der historischen Kindheit
wird eine autonome Wirklichkeit entgegengestellt,
die aus dem präexistenten Material eine andere
Geschichte macht.
Die Distanz ist schon in der Wahl der Sprache angelegt:

Werden alle Ereignisse der Kindheit im Garten in
Deutschland auf Französisch geschrieben, so hat
Goldschmidt die beiden Erzählungen über seine
Flucht nach Megeve und das dortige Leben in verschiedenen
Verstecken auf Deutsch geschrieben. Dieser
ersten übersetzenden Distanz ist eine artistische
im Innern der verwendeten Sprache zur Seite gestellt.
Goldschmidt reißt sich insbesondere in den beiden
auf Deutsch verfaßten Erzählungen von der gegebenen
deutschen Sprache los, um sich seine eigene zu
schaffen – die freilich noch des Vehikels der gegebenen
deutschen Sprache bedarf, ja ohne sie gar nicht
möglich wäre.
Trzaskaliks Buch zeigt, wie sehr jedes Wort von Goldschmidt
gezwungen wird, alle seine historischen Verwendungen
in der Geschichte zu zitieren und sich gerade
dadurch von allen Bedeutungen befreit, für eine
der Zeiten der Erzählung, um schließlich vereinzelt,
im narrativen Subtext der Erzählung, der selbstredend
an der sprachlichen Oberfläche operiert, mit neuen
Bedeutungen versehen zu werden.
Der erste und zweite Abschnitt von Trzaskaliks Buch
profiliert Goldschmidts bisher völlig unbeachtet gebliebene
sprachphilosophische und essayistische
Schriften zu Freud und Rousseau als poetologische
Begründung des literarischen Verfahrens. Auch dabei
ist am Begriff der Gegensprache anzusetzen. Denn
obgleich er noch nie für Wert befunden wurde, zum
Titel einer eigenständigen Untersuchung gemacht zu
werden, liegt er doch vielbeachteten Versuchen zugrunde,
Sprache und Übersetzung zu denken oder das
Verhältnis von Sprache und Denken zu bestimmen
(Jacques Derrida, Jean Bollack und Gilles Deleuze).