Das Werk von Anna Seghers ist reich an besonderen, einzigartigen Szenen. Ob Träume, Erinnerungen an Kindheit und Jugend, zeitgeschichtlich präzise oder phantastisch überhöhte Begebenheiten wie etwa die imaginäre Begegnung der drei Dichter Nikolai Gogol, E. T. A. Hoffmann und Franz Kafka in einem Prager Caféhaus: Immer führt der unverwechselbare Ton, die schöne, behutsame Sprache der Schriftstellerin mitten hinein in ihre Prosa, ebenso zart wie kraftvoll, ebenso abenteuerlich wie diesseitig handfest. Den Legenden, Mythen und Märchen der Schriftstellerin gehört dabei die besondere Liebe der Autorin Monika Melchert.
Ein kurzer Ausschnitt aus Erzählungen oder Romanen von Anna Seghers bildet den Einstieg in eine beschwingte Wanderung durch ihre besten Texte. Es sind Extemporés zu Szenen, von denen die Autorin selber tief ergriffen wurde, zuweilen Neuentdeckungen von Prosatexten, die ein wenig in Vergessenheit gerieten oder auch nie im Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit standen. Hauptmotive und traditionsbildende Verbindungslinien zwischen den verschiedenen Teilen des erzählerischen Werkes werden kenntlich gemacht, darunter so berühmte und symbolträchtige Motive wie das vom siebten, leergebliebenen Kreuz.
Der Band bietet einen Längsschnitt durch das gesamte Schaffen der Seghers: vom frühen, schon im Ton der überlieferten Sage gehaltenen Text „Die Toten auf der Insel Djal“ bis zu einer der letzten Erzählungen aus dem Zyklus „Drei Frauen aus Haiti“ im Alterswerk. Die etwa 30 Lesarten zu einer Szene werden ergänzt durch Interpretationen einiger Essays aus der Zeit des Exils wie „Vaterlandsliebe“ oder „Frauen und Kinder in der Emigration“. Die Beiträge des Bandes wollen dazu verführen, den ganzen Text der Schriftstellerin zu lesen, die als die bedeutendste deutschsprachige Erzählerin des 20. Jahrhunderts gilt.