Was in einer bestimmten Kultur die Menschen bewegt, was sie gehasst, geduldet, geschätzt haben, was aber auch gefürchtet oder erträumt wurde, lässt sich an ihren Geschichten ablesen. Dies ans Licht zu bringen ist das Anliegen der Kulturnarratologie. Es geht dabei immer um das faszinierende Wechselspiel von Kultur und Geschichte(n). In der Kulturnarratologie werden Erzähltexte sowohl räumlich und zeitlich kulturell verortet als auch narratologisch aufgrund von Erzählelementen und -strukturen. Eine Geschichte kulturnarratologisch zu untersuchen bedeutet, sie horizontal und vertikal zu lesen, d. h. sie einer historisierenden, diachronen und einer systematisierenden, synchronen Betrachtungswiese zu unterziehen. Besondere Beachtung wird dabei der Interdependenz der inhaltlichen Aussage (Bedeutungsgestalt) und der sprachlichen Form (Textgestalt) geschenkt sowie dem jeweiligen ‘Sitz im Leben’ oder ‘Sitz im Buch’.

Die Geschichte, die hier erzählt wird, ist die der “Gypsy Laddie”-Ballade (Child 200). Sie gehört zu den populärsten ihrer Art, und ihre Variantenvielfalt ist beeindruckend: Annähernd 500 Texte und Melodien konnten für diese Studie zusammengetragen werden – die ältesten gehen bis auf das frühe siebzehnte Jahrhundert zurück, die jüngsten sind erst wenige Monate alt. Die Kulturnarratologie lässt die Vielfalt der Geschichten einer Geschichte für die Childballade 200 lebendig werden, indem sie zeigt, wie die alte Geschichte immer wieder neu erzählt wird, mal verhalten und distanziert, mal emphatisch und betroffen. Das Leben selbst und damit die Kultur schafft die Vielfältigkeit der Formen: “The world is made by the singer for the dreamer”.