Während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs 1936 erfährt die Philosophie in Spanien eine intensive Blüte. Die Reformtendenzen des seit Mitte des 19. Jahrhunderts tätigen Krausismo haben in nicht geringem Maße dazu beigetragen. Die Lager scheiden sich in Kritiker des Positivismus oder Gegner des Neokantianismus. Zugleich bilden Dilthey und Scheler einen fruchtbaren Nährboden für die Auseinandersetzung mit Vertretern der Lebensphilosophien und der Phänomenologie. Auch der Existentialismus findet in Miguel de Unamuno einen Vorläufer auf spanischem Boden, der besonderes Interesse für die Schriften Hegels, Spencers, Kierkegaards, Schopenhauers und Bergsons entwickelt. Vom Kreis um Ortega y Gasset werden die neuen Denkströmungen aufgegriffen und kritisch verarbeitet.
Als Schülerin Ortegas gehört auch María Zambrano zu dieser sogenannten »Schule von Madrid«. Die Tatsache, dass Zambrano an der Universidad Central von Madrid in den Jahren 1921-1924 Philosophie studierte, war erstaunlich für die damalige Epoche und ungewöhnlich für eine Frau in der spanischen Gesellschaft. Während ihres Studiums besucht sie Vorlesungen u.a. von Unamuno, Julián Besteiro, García Morente und Xavier Zubiri und beteiligt sich an den Debatten im Rahmen der von Ortega 1923 gegründeten Zeitschrift »Revista de Occidente«. Das Franco-Regime bedeutete das Ende dieser philosophischen Blütezeit.
Die erste Schrift Zambranos im mexikanischen Exil war »Philosophie und Dichtung«. Ausgehend von Platons »Staat« behandelt die Autorin den Widerstreit zwischen den beiden Logos-Formen, dem rationalen philosophischen und dem irrationalen poetischen. In ihrer Untersuchung spannt sie den Bogen der angeführten Beispiele von Parmenides bis Kierkegaard und Valéry. Thematisch gehört die Schrift zu den grundlegenden Werken der Autorin, weil sie darin den Konflikt jener zweier Wissenschafsformen aufzeigt, die sie in ihren späteren Betrachtungen immer zu überbrücken suchte: Die Philosophie muss sich von sich aus gegenüber anderen Wissensformen, etwa religiöser oder poetischer Art, aufgeschlossen und lernbereit zeigen.
Diesem Text sind fünf Essays hinzugefügt, deren Publikationsdaten von 1934 bis 2000 reichen und die dem Themenkreis von »Philosophie und Dichtung« verwandt sind: Gedicht, Schreibakt, Metapher und (heilige) Sprache.