Ein Buch scheint als Träger von Schrift und ausgelagerter Speicher des kulturellen Gedächtnisses über alle Anfechtungen erhaben zu sein. Es verspricht Kohärenz, Dichte und Geschlossenheit von Überlieferung und ist darin ein wesentliches Kultursymbol. Seine mangelnde Pflege oder mutwillige Zerstörung wird somit gemeinhin als Ausdruck kulturferner Barbarei gedeutet. Die vielfältigen Formen der Bücherzerstörung von der Antike bis heute zeigen jedoch, dass Buch und Schrift ihr Versprechen auf (ewige) Dauer und Gültigkeit schon deshalb nicht einlösen können, weil kein Schriftträger eine ihm inhärente Widerstandskraft gegen Verfall und Gewalt besitzt. Kein Text kann sich selbst konservieren, schon gar nicht im Zeitalter seiner digitalen Auflösung. Umgekehrt hat die Buchkatastrophe, also die skandalträchtige Vernichtung einzelner Bücher oder ganzer Bibliotheksbestände, ihre eigenen Mythen herausgebildet, die einer Überprüfung oft nicht standhalten: weder ist das einzelne Exemplar so leicht zu zerstören, wie es Erzählungen und (Film-) Bilder suggerieren, noch reihen sich Bibliotheksbrände so dramatisch aneinander, wie die dem großen Brand der Bibliothek von Alexandria nachgebildeten Szenarien behaupten.
Das von Mona Körte und Cornelia Ortlieb herausgegebene Buch setzt bei dieser Umkehrung der Perspektive an. Die aufeinander bezogenen und miteinander verflochtenen Beiträge aus Bibliotheksgeschichte und Buchwissenschaft, Kunst- und Literaturwissenschaft, Medientheorie und Judaistik zeigen den kulturhistorischen Kontext der vielfältigen Praktiken des Buchgebrauchs auf. Zwei Beiträge aus der Praxis moderner Bibliotheksführung veranschaulichen das. Neben den häufigsten und unvermeidlichsten Beschädigungen von Büchern durch Gebrauch, das Abnutzen der Bände beim Lesen, Anstreichen und Kommentieren der Seiten, geraten solche Verfahren in den Blick, die das Buch zum Objekt kultischer, religiöser und künstlerischer Handlungen machen. Bücher werden in großen Mengen aus dem Bibliotheksbetrieb entfernt, um neuen Platz zu machen. Sie werden aber auch im Rahmen geregelter Glaubenspraxis gezielt dem weiteren Nutzen entzogen und in eigenen Ritualen verborgen oder bestattet. Literaten vernichten ihre Manuskripte, bildende Künstler bearbeiten und verändern den Buchkörper und betonen seine Materialität, darin ähnlich den vielen Szenarien der Einverleibung von Buchstaben und Schrift in sakralen und profanen Texten. Die vielfältigen Gründe für das Verbergen, Abschaben, Zerreißen, Versenken, Begraben, Übermalen und Aufessen von Büchern lassen sich somit nicht mit den Kategorien von Vernichtung und Bewahrung fassen. Gerade die teilweise Vernichtung von Büchern kann ein notwendiger und kreativer Akt sein, wie die auffällige Häufung des Motivs in Literatur und bildender Kunst zeigt.
Die Beiträge machen in der Entfaltung dieses Bedeutungsspektrums deutlich, dass augenfällige Beschädigungen und intentionale Zerstörungen von Buchbeständen auch als Praktiken der Aneignung und Transformation verstanden werden müssen.