„The most elementary remarks upon modern English fiction can hardly avoid some mention of the Russian influence, and if the Russians are mentioned one runs the risk of feeling that to write of any fiction save theirs is a waste of time.“ Mit diesen Worten trägt Virginia Woolf in ihrem wegweisenden Essay „Modern Fiction“ (1919/25) einem literatur- und kulturgeschichtlichen Phänomen Rechnung, dessen Bedeutung nicht unterschätzt werden darf: Die Rede ist von der intensiven Rezeption russischer Schriftsteller im England des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts.
Wie diese Studie zeigt, haben die Werke russischer Autoren, insbesondere Čechovs, die Ästhetik Virginia Woolfs nachhaltig geprägt. Ein Kapitel zu Woolfs Essays veranschaulicht, dass sie Turgenevs, Tolstojs und Dostoevskijs Romane sowie vor allem Čechovs Erzählungen künstlerisch nicht nur sehr schätzte, sondern darin wesentliche Aspekte ihrer eigenen modernistischen Ästhetik bereits teilweise umgesetzt fand.
In der Folge werden Woolfs Romane und Čechovs Erzählungen im Hinblick auf die Semantisierung von Raum und Zeit in detaillierten Textanalysen miteinander verglichen. Dieser Vergleich ermöglicht sowohl eine Annäherung an einen wesentlichen Aspekt der Genese von Virginia Woolfs Poetik, der von der Forschung bisher nicht ausreichend gewürdigt wurde, als auch eine genauere Einordnung Čechovs in den europäischen Kontext des literarischen Modernismus. In diesem Zusammenhang kann das vorherrschende Čechov-Bild in wesentlichen Aspekten grundlegend korrigiert werden.