Niemals zuvor habe die deutsche Presse für einen „ausländischen Schriftsteller“ soviel Platz für „feierliche Gefühlsregungen und Lobreden“ eingeräumt – bemerkte der Literaturwissenschaftler Efim Etkind, als er sich am Morgen des 19. Juni 1997 an seinem Kiosk „ein paar Dutzend deutsche Zeitungen verschiedener Ausrichtung“ kaufte.1 Tags zuvor war sein Freund Lew Sinowjewitsch Kopelew in Köln verstorben. Überschriften wie „Humanist und Versöhner“ (Thüringer Landeszeitung) prägten die meist literarischen Portraits des Germanisten in den Nekrologen. Es wurde daran erinnert, dass er „Dissident wider Willen“ (ND) und „Unsichtbar im Mittelpunkt“ (FAZ) gewesen sei; dass er „mit großem Herzen“ (Zeit) gelebt sowie den „Schlaf eines Rotarmisten“ (TAZ) gehabt habe. Es war aber auch zu erfahren, dass „Ehefrau Maria seine Hand [hielt], als er starb“ (Kölner Express) und dass mit ihm „ein großer Freund der Deutschen“ (Bild) nach langer und schwerer Krankheit verschieden war. In den Texten wurde Lew Kopelew am stärksten für seine Bemühungen um das deutsch-russische Verhältnis gewürdigt. Das dafür am häufigsten gezeichnete Bild war das eines Brückenbauers. Brücken bauen“ - in diesem Motiv wurde Lew Kopelew bereits zu seinen Lebzeiten abgelichtet, „Brücken bauen“ - darüber sprach und schrieb er selbst. Mehrfach bezeichnete er es nach seiner Ausbürgerung aus der Sowjetunion als den Sinn und die Hauptaufgabe seiner Tätigkeiten in der Bundesrepublik Deutschland, in der er ab 1981 zwangsweise lebte. Offensichtlich hatte er damit bei den Nachrufenden einen großen Eindruck hinterlassen. Die Erinnerungen an Lew Kopelew sind bei denen, die ihm dabei begegneten und halfen, noch immer lebendig. In Köln, seinem letzten Lebensmittelpunkt, wird in einem von ehemaligen Freunden, Förderern und früheren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter 1998 eröffnetem „Lew-Kopelew-Forum“, noch heute seiner gedacht und versucht, die Arbeit in seinem Sinne fortzuführen: West-Östliche Begegnung, kultureller Austausch und humanitäre Hilfe sind die drei tragenden inhaltlichen Säulen des Vereins. Weiterhin wird von ihnen seit 2001 jährlich der Lew-Kopelew-Preis für Frieden und Menschenrechte vergeben. Preisträger waren unter anderem Begründer der „Gush Shalom Friedensbewegung“ und die russische Menschenrechtsorganisation „Memorial“. Am Eingang empfängt die Besucherinnen und Besucher in großen Lettern geschrieben ein altes Motto von Lew Kopelew: „Toleranz, Moral, Menschlichkeit – die Ideale und Träume der deutschen und russischen Aufklärer sind keine wirklichkeitsfremden Utopien. Sie sind Wegweiser für unsere Gegenwart und Zukunft.“ Keine zehn Jahre nach seinem Tod scheint man bei den heute 20-30jährigen allerdings mit dem Namen Lew Kopelew wenig anfangen zu können. „Das war doch ein russischer Pilot im Zweiten Weltkrieg!?“, ist eine der – wenngleich falschen, so doch immerhin noch konkreteren – Antworten während einer nicht repräsentativen Umfrage im Frühjahr 2006 durch nächtliche Cafe´s und Kneipen im Berlin-Brandenburgischen Raum gewesen. Dem Fragenden wurde in den meisten Fällen nur ein ahnungsloses Schulterzucken gezeigt. Ob das nun am Ambiente oder an der Region gelegen haben mag, darüber soll hier nicht spekuliert werden. Doch selbst in den Fachwissenschaften der Slawistik, Germanistik, Literaturwissenschaft oder den verschiedenen Disziplinen der Geschichtswissenschaft osteuropäischer oder zeitgeschichtlicher Ausrichtung sind kaum wahrnehmbare Impulse zu verzeichnen, die das Werk oder die Person für sich zu entdecken suchen. Erstaunlich, fällt doch die kräftige Gestalt Lew Kopelews auf einem Bild der Beerdigung Heinrich Bölls 1985 beim Durchblättern eines Sonderheftes zum Mythos der untergegangenen alten Bundesrepublik den interessierten Betrachterinnen und Betrachtern gleich auf der ersten Seite als zentrale Figur in den Blick.2 Vielleicht hatte sich Lew Kopelew mit seinen Anliegen und Projekten zu sehr zwischen ihre Stühle gestellt? Vielleicht war es auch noch zu früh, das Leben eines 1997 verstorbenen außergewöhnlichen Zeugen des 20. Jahrhunderts aufzugreifen? Es bleibt zu hoffen, dass die Ursachen für das allmähliche Vergessen seiner Hinterlassenschaft in der Bundesrepublik am Beginn des 21. Jahrhunderts nicht am Zurückverweisen eines Grenzgängers nach seinem Tode in dessen ursprünglich-nationalen Kontext liegen oder gar darin begründet sind, dass Lew Kopelew in seinen Anliegen heute als nicht mehr aktuell bewertet werden kann. Obwohl der Persönlichkeit in der Geschichte ein großes Interesse entgegengebracht wird, sich das Biographie-Schreiben in den letzten Jahren einer vermehrten Beliebtheit zu erfreuen scheint und sich methodisch unter Umständen auch für die Geschichtswissenschaft wieder als ein fruchtbares Instrument erweist,3 kann es an dieser Stelle nicht der Anspruch formuliert werden, eine umfassende Darstellung des Lebens von Lew Kopelew zu geben. Das muss späteren Arbeiten vorbehalten bleiben, denn der Umfang und die dafür heranzuziehenden Dokumente würden den vorliegenden Rahmen einer Magisterarbeit sprengen. Stattdessen besteht das Ziel darin, auf der Grundlage von Leben und Handeln das öffentliche Wirken von Lew Kopelew in der Bundesrepublik Deutschland von 1981 bis 1997 zu beleuchten. Da jedoch seine Biographie als elementarerer Bestandteil dieses Wirkens anzusehen ist und auf ein bereits ausformuliertes Biogramm seiner Person noch nicht verwiesen werden kann, ist der Arbeit ein kurzes Portrait von Lew Kopelew vorangestellt. Es wurde vor der weiten Landschaft des Aufstiegs und Niedergangs der Sowjetunion gezeichnet, um den Lebenswandel nachvollziehbar zu machen, den der 68jährige bereits hinter sich hatte, als er 1980 in die Bundesrepublik einreiste. Die Grundlagen für dieses Portrait boten seine autobiographischen Schriften und Äußerungen. Autobiographische Erinnerungstexte stellen eine legitime Quelle für eine „Geschichte von unten“ dar. Mit ihnen kann sich dem Menschen in der Geschichte angenähert werden. Mit den aus ihnen gewonnenen Sachinformationen sowie durch das Erkennen der in ihnen geführten Diskurse aber lassen sich auch Mikro- und Makrogeschichte miteinander verflechten und eine intellectual history erst mit Leben füllen.4 Es konnte darauf verzichtet werden, sie nach dem linguistic turn, den die Geschichtswissenschaften in den letzten Jahrzehnten vollzogen haben, vor diesem Hintergrund extra zu dekonstruieren, da es eben die von Lew Kopelew selbst und auf seine Weise vorgetragene Erzählung gewesen ist, die zu seinem Wirken in der Bundesrepublik beigetragen hatte. In einem kurzen Zwischenspiel werden dann einige Umstände seiner Einreise in die Bundesrepublik erläutert, bevor im dritten Teil zeitlich linear einzelne Momente und Aspekte des Wirkens von Lew Kopelew auf der Ebene seines Schaffens in der Bundesrepublik aufgelesen werden. Der Begriff „Wirken“ steht semantisch aber auch für „Wirkung“ und wird alltagssprachlich im Sinne von „bedeutsam-auslösend“ gebraucht. Deshalb wird im abschließenden vierten Kapitel versucht, die öffentliche Wirkung von Lew Kopelew in der Bundesrepublik Deutschland generationsgeschichtlich aufzuspüren und – darüber vermittelt – erste spezifische Wirkungszusammenhänge vorzustellen.