Das Ziel dieser Untersuchung ist es nicht, eine neue Deutung des Werkes von Kafka vorzulegen, sondern die unbegrenzbaren Möglichkeiten der Interpretation dieser Texte zu verstehen. Kafka ist ein Extremfall der Germanistik, die noch keinen Grundkonsens zu ihm finden konnte, weil er kein Autor im üblichen Sinne war. Seine Texte verweisen weniger als andere auf eine äußere Realität, und dieser Umstand ermöglicht einen Vergleich mit der Sprachtheorie von Moses Mendelssohn in ,Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum‘. Im Rückgriff auf diesen orthodox-jüdischen Denker wird Kafka weder mit dem chassidischen noch mit dem zionistischen Judentum in Verbindung gestellt, sondern mit dem traditionellen (Mehrheits-) Judentum, für das das Gesetz für jeden und immer offen steht. Von besonderem Interesse ist daneben das Verständnis des Talmud, dessen Autoren ebenfalls nicht als ‚Autoren‘ bezeichnet werden können. Von hier aus wird ein neuer und auch kritischer Blick auf Kafka möglich, der gleichwohl den divergierenden Interpretationen einen „Eigenwert“ (Robert Weltsch) zuspricht.