Der Codex 12811 der Österreichischen Nationalbibliothek stammt aus der Kartause Gaming und ist auf 1480 bzw. 1488 datiert. Neben liturgischen Vorschriften für Kartäuser und Listen der Mitglieder von Gaming enthält er einen bisher unbeachteten anonymen Choraltraktat. Der Text zeichnet sich durch Besonderheiten hinsichtlich Tonsystem und Terminologie aus, die für den süddeutsch-österreichischen Raum im Spätmittelalter typisch sind. Die regionale Verortung wird durch die Rezeption von Guido von Arezzo, Iohannes Cotto, Bern und Hermann von Reichenau bestätigt. Eine Übersicht über die Gliederung des Traktats wird durch eine summarische Behandlung der Lehrgegenstände (Tonsystem, Mutationen, Intervalle und Tonarten) ergänzt. Eine Untersuchung des (unvollständigen, nur bis zum 6. Ton erhaltenen) Tonars zeigt, dass diese Schrift nicht die für Kartäuser charakteristische Ordnung aufweist, sondern eher benediktinischer Prägung sein dürfte.