In einem Briefwechsel, der sich mit ›Zu-Unrecht-Vergessenem‹ in biographischer und historischer Hinsicht befasst, trifft die deutsche Spät-Aufklärung des ausgehenden 18. Jahrhunderts, besonders personifiziert im Leben und in den Ansichten von Karl Philipp Moritz (1756–1793), auf die Entwicklungen des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts, zumal unter psychiatrischen Gesichtspunkten. Je differenzierter dieser Austausch von fachlichem Wissen und persönlichen Gedanken eine präpsychiatrische Phase der Seelenkunde zu späteren Entwicklungsstufen der Psychiatrie in Beziehung setzt, desto fragwürdiger wird die Vorstellung des stetigen Fortschreitens der psychiatrischen Disziplin zu größerer fachlicher Kompetenz und mehr Humanität. Vielmehr scheinen, als psychiatrische Kurz-Geschichten, auch absteigende Wege beschrieben werden zu können: von der Erfahrungsseelenkunde zur globalisierten diagnostischen Schematik, von der moralischen Sorge zur standardisierten Versorgungstechnik, von der philosophischen Medizin zum Gesundheitsmarketing.
Da jedoch Karl Philipp Moritz mehr war als ein erfahrungsseelenkundlicher Wegbereiter, muß auch dieser Wissens- und Meinungsaustausch über die Rückbesinnung auf eine präpsychiatrische Seelenkunde hinausgehen. Hierbei erweisen sich neben den psychologisch-pädagogischen auch die linguistischen, ästhetischen und poetischen Einsichten des Spät-Aufklärers Moritz in erstaunlicher Aktualität als Beiträge zu einer menschengerechten Anthropologie – nicht als historisierende Reminiszenzen, sondern als sehr nachhaltige Impulse für ein gegenwärtiges Wahrnehmen und Handeln.