Die vom frühen, zum Teil auch vom späten Heidegger ausgegangene und von Hans-Georg Gadamer weiterentwickelte philosophische Hermeneutik ist eine der bleibenden Errungenschaften der Philosophie unseres Jahrhunderts. Faktisch hat die Hermeneutik die Phänomenologie und die Existenzphilosophie als die Hauptform der sog. kontinentalen Philosophie abgelöst, aber zugleich auch deren Erbe angetreten. Machte sich die Hermeneutik zunächst in den Konfrontationen bemerkbar, die sie mit den zeitbedingteren Strömungen der Ideologiekritik, der Psychoanalyse, des Strukturalismus und zuletzt der Dekonstruktion auszutragen hatte, erscheint es an der Zeit, mit dem vom Zeitenabstand gezeitigten Reflexionsgewinn die philosophischen Ergebnisse und Probleme der Hermeneutik einer erneuten Prüfung zu unterziehen. Diese neue Bilanz wird auch gefordert durch die völlig veränderte Quellenlage, insbesondere durch das Fortschreiten der Gesamtausgabe Heideggers und Gadamers, die ein unentbehrliches Licht auf die bislang verborgenen Quellen hermeneutischen Denkens wirft. Auch die letzten Schriften von Jürgen Habermas gehören in diesen Zusammenhang, sofern die ethische Ausweitung des dialogischen Verständigungsmodells eine Anwendung hermeneutischer Einsichten darstellt.