Die sogenannten Nachtgesänge sind die letzten Gedichte, die Hölderlin zu Lebzeiten für die Veröffentlichung zusammen stellte. Sie wurden 1804 geschrieben (teils als Umarbeitung bereits um 1800 vollendeter Oden) und erschienen 1805 im Musenalmanach des Frankfurter Verlegers Wilmans, der bereits die Veröffentlichung von Hölderlins Sophoklesübersetzungen (nebst der wichtigen Anmerkungen) zeitnah übernommen hatte. Beides, Nachtgesänge und Übersetzungen fielen wegen ihrer hermetischen Schwerverständlichkeit bei Publikum und Rezensenten durch. Trotzdem die Nachtgesänge formal wie inhaltlich singulär im Spätwerk sind, hat sie auch die moderne Hölder-linforschung oft ignoriert (oder pathologisiert); gleichzeitig aber entstanden zahlreiche Arbeiten zu einzelnen Gedichten oder Gedichtgruppen dieser Nachtgesänge (z.B. zu Hälfte des Lebens, Chiron u.a.), die oft genug den Eindruck und die Bedeutung des Zyklus verwischten. Hinzu kommen die für den Zyklus ungünstigen Editionsverfahren der großen kritischen Gesamtausgaben (StHA, FHA), die die neun Gedichte der Nachtgesänge verschiedenen Kategorien zuordneten, wodurch ihre ursprüngliche Zusammengehörigkeit verloren ging. Die neueren Studienausgaben von Knaupp und von Schmidt drucken die Nachtgesänge hingegen wieder als Zyklus. Die vorliegende Arbeit versteht sich als Versuch, die neun Gedichte als konzipierten Zyklus zu lesen und deren schwer verständliche Hermetik u. a. dadurch in eine sinnvolle Lesung zu verwandeln, als jedem der neun Interpretationskapitel ein zweites Kapitel beigestellt ist, welches die Bezüge des jeweiligen Gedichts zu den anderen Nachtgesängen aufzeigt. Das dadurch entstehende Bezugsnetz, welches die einzelnen verwandten Motive, Metaphern, Bilder etc. aus ihrer Einzelbedeutung quasi auf die Meta- Ebene des Zyklus hebt, eröffnet Einblicke in das Wesen der modernen Lyrik am Beginn des 19. Jh., die früheren Interpreten entgangen sind.