Als im Sommer 1821 der Sohn eines angesehenen Wiener Klavierbauer- und Musikerehepaares zu einer großen Reise durch Europa aufbrach, stand der Kontinent ganz im Zeichen der Restauration, deren Ziel die Wiederherstellung der gesellschaftlichen Zustände des Ancien Régime und deren Exponent der österreichische Staatskanzler Fürst von Metternich war. Österreich war noch ein ausgesprochener Agrarstaat, in dem – im Gegensatz zu England oder Frankreich – die industrielle Revolution erst in ganz wenigen Sparten und auch da eher zögernd eingesetzt hatte. Nach den schweren finanziellen Belastungen durch die Napoleonischen Kriege und dem Staatsbankrott von 1811 hatte der Wiener Kongress den ersehnten Frieden gebracht und damit den wirtschaftlichen Aufschwung des 19. Jahrhunderts eingeleitet. Im vorliegenden Reisetagebuch des jungen Klavierbauers, der damals – per Postkutsche und Schiff, zu Pferde und zu Fuß – ein Jahr lang durch Österreich, Deutschland, Frankreich, England und die Niederlande unterwegs war, widerspiegelt sich dieser politische Rahmen. Es ist wohl nicht so sehr die Person des Schreibers als vielmehr die Tatsache, dass es sich hier um eine der wenigen noch unveröffentlichten Originalquellen handelt, die neben vielen klavierbautechnisch relevanten Einzelheiten auch ein plastisches und mit großer Unmittelbarkeit gezeichnetes Bild jener musik- und kulturgeschichtlich so bedeutsamen Epoche entwirft. Anders als bei seinen Eltern, die – der Vater durch seine Flucht mit Schiller, die Mutter durch ihre häusliche Fürsorge für Beethoven – einer größeren Öffentlichkeit ein Begriff geworden sind, fehlen in Leben Johann Baptist Streichers glänzende Freundschaften und spektakuläre Ereignisse, die auf seine Person ein allgemeineres Interesse gelenkt hätten. Er war eben „nur“ Klavierbauer, allerdings einer der innovativsten und fruchtbarsten, die es von den 20er bis in die 60er Jahre des 19. Jahrhunderts in Wien gegeben hat. Das Tagebuch aber verrät nicht nur seinen scharfen Blick auf technische Details und alle Erneuerungen, die den Klavierbau betreffen, sondern verzeichnet auch viele alltägliche Details im Verkehr mit Land und Leuten: So findet z. B. die öffentliche Badeanstalt in Paris ebenso sein Interesse wie der Ablauf einer Jahresversammlung der Marine-Gesellschaft London und überhaupt die Vorlieben der Franzosen und Briten. So weiß er von der gesellschaftlichen Etikette, den notwendigen Vorbereitung und den (örtlichen) Gefahren einer Reise ebenso zu berichten wie über den unseligen Mörder Kotzebues und den Waterloo-Tourismus. – Dies alles aus der authentischen Feder des frühen 19. Jahrhunderts. Als Reisebegleiter ist ein umfangreicher Kommentar beigefügt, der die referierten Personen und Orte minutiös erschließt und damit den Leser tief und lebhaft in das Zeitdokument eintauchen lässt.