Der LESESAAL Nr. 32 enthält den Text eines Vortrags, der am 9. Februar 2009 in der kestnergesellschaft (Hannover) im Rahmen der Ausstellung und Vortragsreihe 'bookmarks – Wissenswelten von der Keilschrift bis YouTube' gehalten wurde.
„Leibniz im Netz“ tritt uns in dreierlei Rollen entgegen: Als Nutzer ('user'), als Anwalt eines Dienstleisters ('provider') und als praxisorientierter Erfinder, der sich über technologische Verbesserungen des Netzes Gedanken machte. Das Postwesen, wie Leibniz es kannte, nutzte und zu optimieren trachtete, war prägend und konstitutiv für seine Existenz als Gelehrter, der nicht als einsames Genie im stillen Kämmerlein wirkte, sondern nur im permanenten Austausch mit anderen sich entfalten konnte – und sich auch selbst so sah. Leibniz’ Lebenszeit markiert die Epoche der europäischen Geschichte, in der die Kommunikation über große Entfernungen ihre relativ größte Beschleunigung erlebte. Von 11 Tagen, die ein Brief um 1615 von Nord nach Süd durch Deutschland benötigte, waren 1695 noch 6 Tage übriggeblieben – in absoluten Zahlen eine geringe Verbesserung, mit einer durchschnittlichen Beschleunigung von 1,5 Stunden pro Jahr aber ein relativer Zeitgewinn, der in einem vergleichbaren Zeitraum nicht wieder erreicht wurde.
Mit Recht hat man in Analogie zur industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts von einem Take-off des Kommunikationswesens im 17. Jahrhundert gesprochen, und dieser Take-off fand gleichzeitig mit der Wissenschaftsrevolution statt, deren Dynamik und Erfolg ganz wesentlich auf dem Austausch und der Diskussion von Ideen in einem gesamteuropäischen Rahmen beruhte. Das System der Post schuf schon vor dem Zeitalter der Aufklärung die Voraussetzungen für die zunehmende Verbreitung von Informationen und damit für einen Strukturwandel der Öffentlichkeit, den Jürgen Habermas deutlich später ansetzte. Die Zeitgenossen waren sich der Bedeutung der Einrichtung voll und ganz bewusst. So schrieb ein anonymer Autor 1785: Unter den in der That einfachen und wenigen Ursachen, durch deren Zusammenfluß unser kleines Europa zum herrschenden Welttheil und zum ausschließenden Size aller Cultur und Politik geworden ist, stehet seine Erfindung [d.h. des Postwesens] oben an. Auch wenn man diese eurozentrische, mit viel aufklärerischem Pathos vorgetragene Schlussfolgerung als überheblich empfinden mag: Das für Personen und Informationen frei zugängliche Netz der Netze war in globaler Perspektive ein Alleinstellungsmerkmal Europas. Insofern steht der Leibniz-Briefwechsel nicht nur mit seinen vielfältigen Inhalten für eine entscheidende Etappe der Wissenschaftsgeschichte, sondern in seiner Gesamtheit, in seiner sozialen und geographischen Reichweite – gleichsam auf einer Metaebene – auch für eine entscheidende Entwicklungsstufe der europäischen Zivilisation.