Der Atridenmythos stimulierte die philosophische wie die politische Reflexion und erweiterte sich an prägnanten Wendepunkten der europäischen Geschichte zu einem umfassenden Deutungsmuster. Die Beiträge in dem vorliegenden Band greifen den inneren Zusammenhang zwischen der archäologisch-rekonstruierenden und der literarisch-deutenden Arbeit am Mythos auf. Zwei Aspekte des Mythos – sein Bezug zu der großen Geschichtsfrage nach dem Verhältnis von Moral und politischer Macht und die Verknüpfung dieses Zusammenhangs mit monumentalen Frauengestalten, die die scheinbar mächtigeren Männer weit überragen – inspirierten Autoren vor allem auch des 20. Jahrhunderts, zeitgeschichtliche Konfliktlagen und Epochenbrüche in diesem Mythos zu spiegeln. Doch nicht nur der zerrissene und vom Krieg zerfleischte Kontinent und tastende Versuche einer Versöhnung wurden vor und nach 1945 mit diesem Mythos in Szene gesetzt. Auch aktuelle, scharf pointierende Inszenierungen begeben sich auf die Suche nach seinem blutigen Kern. Sie belegen das anhaltende Interesse an diesem Stoff, der nun ohne jeden verstaubten Repräsentations- und Bildungsklassizismus zum Medium wird, in dem politischerTerror, Krieg und das Aufeinandertreffen von Kulturen künstlerisch erfasst werden kann.