Das Überraschende, das ästhetisch Wirksame in der Rilkeschen Lyrik lässt diese Untersuchung vor allem in dem Perspektivenwechsel sehen. Darin nämlich, dass eine traditionelle Rolle, eine bekannte Geschichte oder Situation in eine vollkommen neue Beleuchtung gesetzt und umgedeutet wird. Es eröffnet sich dadurch ein neuer Horizont, der das Herkömmliche ungültig macht, indem er es umwertet. Durch die Modifizierung und Veränderung in den Rollen und Situationen werden die altgewohnten Erwartungen gebrochen und die Deutungsmöglichkeiten auf eine unbekannte Ebene transponiert. Die „Umwertung aller Werte” ist zwar auch bei Rilke radikal, aber nie so spektakulär wie bei Nietzsche, und sie entbehrt jedes Pathos. Der Radikalismus ist bei Rilke vor allem in der Diskrepanz zwischen zwei semantischen Ebenen zu suchen, die sich konsequent opponieren. Die eine Ebene enthält ein traditionelles Begriffs- und damit verbundenes Wertesystem, das durch die Umdeutung, durch die Transponierung auf eine zweite Ebene, verneint oder zumindest bezweifelt und relativiert wird. Aber auch im Falle der Ablehnung herkömmlicher Werte schwingen diese immer noch mit, und solange sie präsent sind, können sie auch eine bewahrende Funktion haben. So markiert die Kunst Rilkes der mittleren Periode jene Übergangszeit, in der die Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts durch die Moderne des 20. Jahrhunderts abgelöst wird.