Die Erzählung von Kain und Abel wird in der rabbinischen Literatur häufig aufgegriffen. Ihre Auslegung in aggadischen Midraschim bezieht sich nicht auf eklektische Zitatsplitter, sondern spielt den Kontext der aufgerufenen Verse immer mit ein. Dabei arbeitet die rabbinische Exegese mit "Traditionsstücken", die bestimmte Zitatzusammenhänge vorgeben. Die Autorin analysiert diese Traditionsstücke und ihre Einbindung in den Empfängertexten. Ihr methodischer Ausgangspunkt ist die Intertextualitätsforschung, die sie mit der jüngeren Midraschforschung auf innovative Weise vernetzt. In unterschiedlicher Weise ziehen die rabbinischen Autoren die Traditionsstücke heran, um Kain und Abel zu Identifikationsfiguren für den Leser zu machen: Während Kain eher für das Individuum steht, ermöglicht Abel kollektive Deutungen. Kain kann negativ (als Mörder) oder positiv (in seiner Umkehr) bewertet sein. Gemeinsam ist beiden Figuren, dass sie je in ein Verhältnis zu Israel gesetzt sind.