Der 'poeta vates‘, der Dichter als Seher - ein obsoletes dichterisches Modell? Auf den ersten Blick scheint das archaische Modell des von Gott inspirierten und zum (Wahr-)Sprechen begabten Dichters und Sehers (resp. Propheten), wie es im europäischen Kulturraum aus Antike und Altem Testament überliefert ist, in der 'entzauberten‘, säkularisierten Gesellschaft und Kultur an Aktualität viel eingebüßt zu haben. Das Sehermodell bleibt in der deutschen Literatur der Moderne jedoch immer noch aktuell und aussagekräftig; den Rationalisierungsdruck der Moderne überlebt es allerdings in säkularisierter Form. Der Dichter - einstiger Verkünder heilvoller Zukunftsvisionen - tritt zwar immer noch als 'Seher‘ auf, das literarische Zukunftsbild prägen aber nun Unheil, Untergang und apokalypseartige Motive. Der Dichter wird zum Unheilspropheten, zu einer modernen 'Kassandra‘ und somit zu einer Warner-Figur. Auch hier machen sich antike und testamentarische 'negative‘ Paradigmen fruchtbar: Die antike Unheilsprophetin Kassandra ist hierbei konstitutive Referenz- und Identifikationsfigur, das Motiv der Apokalypse gängige Bezugsfolie. Anhand der Werke von Wolfgang Koeppen (Die Mauer schwankt (1935), Tauben im Gras (1951), Das Treibhaus (1953), Christa Wolf (Kassandra (1983)) und Günter Grass (Die Rättin (1986)) - wird in dieser Arbeit die Aktualität des Motivs, aber auch dessen Wandel exemplifiziert.