Die Diskussion darüber, was Goethes Werk mit dem Epochenumbruch vom Feudalismus zum Kapitalismus zu tun hat, setzt erst Mitte der 1970er Jahre ein und führt in den 1980er Jahren zu einer lebhaften Diskussion mit umfangreichen sozialgeschichtlichen Analysen, eine Debatte, die Mitte der 1990er Jahre vorläufig endete. Die Interpretation von Rüdiger Scholz, 1982 zuerst erschienen und jetzt in einer aktualisierten Neuauflage vorgelegt, mit einem Anhang von Will Quadfl iegs späten Äußerungen, bezieht den Faust in seinem dialektischen Weltbild, in seinen poetischen Formen und in seiner Gesamtwertung auf die Gesellschaftsgeschichte der Lebenszeit Goethes. Der Individualismus der Titelfigur und seine Momente unendliches Streben, Tatendrang, Schöpferkraft, totaler und universeller Ausgriff auf die Gesamtheit der Welt, der Gegensatz von Liebe und Familie und tätiger Selbstverwirklichung, die Dominanz des Mannes gegenüber der Frau, die Rolle der Sexualität im bürgerlichen Subjekt thematisieren Widersprüche der kommenden kapitalistisch bürgerlichen Gesellschaft, die zum Teil sehr genau die wirklichen historischen Probleme benennen, sie zum Teil auch weit verfehlen. Die sozialgeschichtliche und psychoanalytische Studie zeigt, daß die Strukturen des Dramas den Prozess der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und deren historischer Dynamik präsentieren.