Es sind kaum zwanzig Jahre vergangen, dass sich auch die Staaten Mittel- und Osteuropas auf den abenteuerlichen Weg eines geeinten Europa begeben haben. Seitdem hat sich die Geschichte enorm beschleunigt. Die Lebenswirklichkeiten der verschiedenen Nationen haben sich angeglichen; alte Koalitionen haben sich aufgelöst; neue Konstellationen entstehen, die sich wiederum bei jeder aktuellen Problemstellung anders ausrichten. Alles ist im Fluss. Auch die alten Gewissheiten relativieren sich, die Bildung, Kultur, Religion, Wissenschaft und Kunst in nationalen Schutzräumen und Diskursfeldern über Jahrhunderte hinweg aufgebaut hatten. Das reflektiert sich nicht minder in den Wahrnehmungen des Anderen – hier des Modells Frankreich – in den deutschsprachigen Kulturkontexten der Schweiz, Österreichs und Deutschlands. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts herrschte zwischen diesen beiden Räumen eine eifersüchtige Zweierbeziehung, die zwischen Bewunderung und Hass pendelte und durch die kriegerischen Auseinandersetzungen noch vertieft wurde. Sie fungierte nicht selten in der Konkurrenz als Triebkraft zur Profilierung der eigenen Identität; doch sie führte ebenso zu Klischees und Banalisierungen, zu Auslagerungen und Projektionen tiefgreifender Strukturprobleme der Moderne auf den Anderen, den man benutzen konnte, um die eigenen Unzulänglichkeiten gleichsam rituell auszutreiben.
Diese Mechanismen funktionieren nur noch bedingt in den Zeiten der Globalisierung, der grenzüberschreitenden Medien- und Informationstechnologien und in einem europäischen Rahmen, der dazu zwingt, jedes nationale Interesse auf jedem Politik- oder Kulturfeld stets wieder neu zu fixieren und ins Verhältnis zum Gemeinschaftsinteresse zu setzen, das längst nicht mehr als Anderes dem Eigenen gegenübergestellt werden kann. Vielmehr zeigt sich auf immer mehr Gebieten, dass beides ineinander übergeht, ohne jedoch seine jeweils besondere Kontur zu verlieren. Es bedarf immer größerer hermeneutischer Anstrengung, das Andere im Akt des Verstehens nicht etwa im arroganten Blick richtender Vernunft herabzusetzen oder gar zu zerstören, sondern mit Respekt und Einfühlung aufzunehmen und gemeinsam in lebbare Synthesen zu überführen, immer in dem Bewusstsein, dass eine nicht auflösbare inkommensurable Differenz zwischen den Individuen wie zwischen den Nationen bestehen bleiben wird.
Dieser Band vereint Beiträge, die sich diesem sehr komplexen Zusammenhang aus unterschiedlichsten Perspektiven und auf sehr disparaten Gebieten angenommen haben. Bewusst wurden keinerlei Erwartungshaltungen formuliert, keine theoretischen Konzepte vorgegeben oder Sichtweisen nahegelegt. Gerade umgekehrt ging es um eine Art Bestandsaufnahme von Themen und Problemen bei der Wahrnehmung Frankreichs in den deutschsprachigen Kulturkontexten, die keinesfalls den Anspruch auf totale Repräsentanz erhebt, aber doch viele interessante Ergebnisse gezeitigt hat. Es sei an dieser Stelle allen Autoren dafür gedankt, dass sie sich auf dieses Experiment eingelassen haben, das alle traditionellen Grenzen zwischen der reflektierenden Anstrengung der Geisteswissenschaften und der kreativen von Literatur und Theater übergreift.
Zunächst ist auffällig, dass die traditionellen Themen einer vergleichenden Gegenüberstellung noch immer stark vertreten sind. Besonders auf dem Feld Politik-Geschichte-Recht werden die nationalen Gegensätze in ihrer Genesis und in ihrer Funktion für die eigene Identitätsbildung präsent gehalten. Dieser historische Blick ist offensichtlich sehr wichtig, um die eigene Position bewusst zu machen, um mit einem deutlich formulierten nationalen Profil in den europäischen Diskurs einzutreten. Aus polnischer Perspektive (Jacek Rzeszotnik, Wroclaw) werden – ausgehend von der Modellfunktion der französisch-deutschen Aussöhnung nach 1945 für die Gestaltung der polnisch-deutschen Beziehungen nach 1990 – die napoleonische Besetzung und die Befreiungskriege thematisiert. Marcin Cienski (Wroclaw) insistiert für das 18. Jahrhundert auf die Einbeziehung des polnischen Diskurses in die ansonsten französisch-deutsch vergleichende Betrachtungsweise. Die polarisierende Energie, die von Ikonen der französischen Geschichte, in diesem Fall von Robespierre, auf die Formierung der politischen Fronten in Deutschland ausging, behandeln die Beiträge von Gabriela Jelitto-Piechulik (Opole) für den progressiven und Andrea Rudolph (Opole) für den konservativen Diskurs. Wie Fritz Taubert (Dijon) und Klaus Zeyringer (Angers/Graz) unterstreichen, fungierte Frankreich im 19. Jahrhundert als Modell, das man gegen die politisch versteinerten Gesellschaftsformen in Deutschland wie in Österreich ins Feld führen konnte. Und noch in der DDR konnte der oppositionelle Diskurs der französischen Existenzphilosophie genutzt werden, um dem Resistance-Potential im eigenen Staat eine intellektuelle Ausdrucksform zu geben, wie Brigitte Sändig (Potsdam) zeigt.
Auf dem Gebiet der Literatur tritt diese politische Dimension am Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend zurück. Die Leerstelle wird durch Kunst und Literatur besetzt, die zwar schon immer zum ideellen Frankreichbild gehörten, jetzt jedoch auch als besondere ästhetische Anstrengung zur künstlerischen Bemeisterung der Moderne wahrgenommen werden und gerade in Paris auch als Lebensform inspirieren. Hier seien die Beiträge von Christa Baumberger (Bern/Schweiz) und Sabine Haupt (Freiburg/Schweiz) zum Frankreichbild und zum Parismythos im Werk Schweizer Autoren ebenso genannt wie die Studie von László V. Szabó (Veszprém) über Hugo von Hofmannsthal oder noch der Artikel von Walter Wagner (Wien) über Thomas Bernhard. Bis heute manifestiert sich diese Seite des Frankreichbilds in der besonderen Bewunderung, die gerade Marcel Proust bei den Deutschen genießt, wo die Auseinandersetzung um das Proust-Bild einiges aussagt über eher konservierende oder eher modernisierende Tendenzen bei den frankophilen Intellektuellen (Michael Kleeberg, Berlin). Joseph A. Kruse (Düsseldorf/Berlin) hat in diesem Zusammenhang in seinem Beitrag zum Platz der Literaturgesellschaften im Kulturtransfer zurecht die Bedeutung der Proust-Gesellschaft hervorgehoben.
Dieser Frankreichvision haftet freilich auch etwas Elitäres an, von dem sich die manchmal nüchtern, manchmal expressionistisch-bilderstürmerisch gebende deutschsprachige Literatur des 20. Jahrhunderts ostentativ abgrenzt. Dies zeigen u.a. Véronique Liard (Dijon) am Fall Friedrich Dürrenmatt, Sabine Haupt (Freiburg/Schweiz) und Christa Baumberger (Bern/Schweiz) in Bezug auf Schweizer Autoren wie etwa Ludwig Hohl oder Peter Bichsel. Vieles davon findet sich in den Interviews wieder, die Valérie de Daran (Poitiers) mit den österreichischen Autoren Karl-Markus Gauß (Salzburg), Gabriel Loidolt (Graz) und Hanno Millesi (Wien) geführt hat – Autoren, die von ihr ins Französische übersetzt worden sind. Meist changiert die In-Dienst-Nahme der Frankreichbezüge zwischen einer Benutzung als Instrument der Kritik an der eigenen Kultur und gelegentlich belustigter Distanzierung von der französischen, wobei auch ein nicht allzu ernst zu nehmendes Kokettieren mitschwingt. Dies spiegelt sich in den Beiträgen von Walter Wagner (Wien), Klaus Zeyringer (Angers/Graz) oder Valérie de Daran (Poitiers).
Eine besondere Bedeutung kommt den Vermittlern im Kulturtransfer zu wie dem Fürsten Pückler (Andrea Micke-Serin, Angers), Heinrich Heine (Joseph A. Kruse, Düsseldorf/Berlin), Hugo von Hofmannsthal (László V. Szabó, Veszprém), René Schickele, Annette Kolb (Irena Swiatlowska /Izabela Kurpiela, Wroclaw) oder Michael Kleeberg (Branka Schaller-Fornoff, Belgrad/Berlin).
Eigenständige Problemfelder in vergleichender Perspektive untersuchten Wolfram Malte Fues (Basel) mit der erotischen Literatur des 18. Jahrhunderts und Antonia Eder (Genf) mit deutschen und französischen Rechtsparadigmen in der Sicht von E.T.A. Hoffmann. Überhaupt erwies sich das 18. Jahrhundert, das sich in den deutschsprachigen Ländern bis 1830 verlängern lässt, als ein nach wie vor sehr präsentes Forschungsfeld, wenn es um die ideengeschichtlichen Grundlagen des modernen Europa und ganz besonders um die französisch-deutschen Beziehungen geht.
Eine ganze Reihe anderer Aufsätze beschäftigt sich mit Themengebieten und Problembereichen, die über die Ebene spiegelartiger Bezugnahmen hinausgehen. Hierzu gehört der Diskurs über das 'Verzeihen des Unverzeihlichen', den Verena Rauen (Bochum/Paris) thematisiert, ohne den eine philosophisch reflektierte Annäherung in Europa nach 1945 kaum möglich gewesen wäre und der die Leistungsmöglichkeit der französischen Philosophietradition, die im rational kontrollierten, diskursiven Moment ihre Stärke hat, unter Beweis stellt.
Die Reibung am Modell Frankreich, das nicht nur bedeutende revolutionäre Bewegungen ausgelöst, sondern auch verstanden hat, sie in der politischen Realität und in der künstlerischen Tradition zu befestigen, zeigt sich auch bei so unterschiedlichen Autoren wie Peter Hacks (Marion George, Poitiers) und in einer Mischung aus Bewunderung und Distanz bei Michael Kleeberg (Berlin), kommentiert von Branka Schaller-Fornoff (Belgrad/Berlin), während Brigitte Krüger (Potsdam) in ihrem Text über die Houllebecq-Rezeption in Deutschland mit Recht die Frage stellt, ob die bei diesem französischen Autor verhandelten globalen Problematiken und die von ihm meisterhaft genutzte mediale Inszenierungstechnik nahe legen, dass es überhaupt keine nationale Differenz mehr gäbe.
Nicht minder interessant ist der Umgang des Theaters mit der französischen Tradition, wie das Gespräch zwischen Georg Holzer (München) und Hans-Ulrich Becker (Frankfurt am Main) über eine Inszenierung von Racines Andromache aus dem Jahre 2009 deutlich macht, denn die lebendige Bühne kann sich in ihrem Kulturtransfer nicht auf tote Götzen zurückziehen. Sie muss in der anderen Sprache und in dem anderen Sinnkonstrukt ein Angebot finden, das das gegenwärtige Publikum überzeugt. Dies gilt nicht nur für den französischen Klassiker, sondern auch für den Avantgardisten Jean Genet, dessen Stück Paravents in der Inszenierung von Dieter Dorn (2003) von Georg Holzer (München) und Hans-Joachim Ruckhäberle (Berlin) thematisiert wird.
Zwei Beiträge beschäftigen sich mit den Auswirkungen der modernen technischen Möglichkeiten auf die Tradierung von Wissens- und Wertebeständen im französisch-deutschen Kulturtransfer. Gert Pinkernell (Wuppertal) untersucht die quantitative und qualitative Repräsentanz von französischen Autoren im deutschsprachigen Wikipedia. Er selbst geht dabei von einem literaturgeschichtlichen Kanonwerk aus, also von der tradierten Funktionszuweisung an Forschung und Bildung, die Wahrnehmung der anderen Kultur durch Wissen zu begleiten und zu steuern. Wikipedia hingegen konstituiert sich durch den ›freien‹ Zugriff der Öffentlichkeit und formt auf diese Weise einen Wissensbestand über französische Literatur und einen neuen Kanon, die ihrerseits wiederum steuern, was man wie kennen sollte. Noch komplizierter gestalten sich der Zugang und die Austauschprozesse von Wissen und Kultur über die digitalen Bibliotheken, die sich seit den 90er Jahren explosionsartig entwickelt haben. Der Beitrag von Anne-Kathrin Marquardt (Lyon/Berlin) illustriert die Komplexität des Problems im europäischen wie im globalen Rahmen.
Jan Werquet (Berlin) nimmt sich mit dem französischen Konzept der Laizität eines besonders sensiblen Gegenstandes an, der gleichwohl von höchster Aktualität und Relevanz ist. Er perspektiviert den französischen Umgang mit der eigenen nationalen Identität, der Integration oder eben auch Abweisung des Fremden aus deutscher Sicht.
Insgesamt zeigt sich ein sehr vielschichtiges Frankreichbild in den deutschsprachigen Kulturkontexten. Noch geben Geschichte und Politik tradierte Erinnerungsorte und –daten an die Hand, die klare Zuweisungen ermöglichen und die Bestärkung des Andersseins der eigenen Positionen als Voraussetzung für einen gemeinsamen Diskurs profilieren, in dem dann jeweils ausgehandelt werden kann, wieviel Gemeinsamkeit gewünscht und gewollt wird. In Kunst und Literatur bilden die nationalen Kulturpolitiken noch Schutzräume für Identitätsbestände, denen jedoch global wirkende Marktgesetze entgegensteuern. Immerhin erscheint die französische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts oft noch als Refugium für eine spezifisch ästhetische Funktionszuschreibung an dieses Medium, während im deutschsprachigen Raum die inhaltliche Relevanz, die Zuordnung zu gesellschaftlichen Fragestellungen und Gruppenmeinungen sowie die Aufgabenzuschreibung einer Lebens- und Orientierungshilfe durch Medien, Schule und Forschung zu überwiegen scheint.
Doch kündigen sich auch Vorboten einer Neustrukturierung der wechselseitigen Kulturwahrnehmungen an, ohne dass diese von dominanten Konzepten begleitet wäre oder bereits klare Formen angenommen hätte. Sie vollzieht sich vielmehr in konkreten und eher tastenden Akten, mehr als Ergebnis von lebensweltlichen praktischen Situationen, denn als Realisierung vorgegebener Zielvorstellungen. Die Verkürzung der Reisewege, die Leichtigkeit, mit der man sich für längere Zeit im Nachbarland niederlassen kann, das Wegfallen von Wahrnehmungsbarrieren wie verschiedenen Währungen, verschiedenen Lebensrealitäten, der Zugang zu europäischen Medien in Bild und Schrift über Internet und Satellitenfernsehen fördern das Bewusstsein von der Verknüpfung der früher als getrennt wahrgenommenen Räume. Das Problem des Anderen wird ganz unmittelbar das Meine und zwingt zum Verstehen, wenn man zu wirklichen Lösungen kommen will. Innen-Außen, Nah-Fern, Zentrum-Peripherie, das Eigene-das Fremde, das Ich-der Andere – all diese Ordnungsmuster, die das europäische Denken über Jahrhunderte hinweg begleiteten, relativieren sich nach und nach in ihrer Substanz, müssen vielmehr jeweils neu bestimmt und ausgerichtet werden. Dabei verliert das hier thematisierte Verhältnis seine Exklusivität und damit das Frankreichbild seine überzeichnet positiven wie negativen Konnotationen in den deutschsprachigen Kulturkontexten. Es tritt ein in eine europäische wie eine globalisierte Normalität, ohne jedoch aufzuhören, in seiner Besonderheit als Ferment zu wirken.
Véronique Liard Marion George
Universität Dijon Universität Poitiers