Stifters Abdias, ein Jude aus dem nordafrikanischen Atlasgebirge, ist eine der merkwürdigsten Figuren der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. Bis ins späte 20. Jahrhundert ist er für antisemitische Deutungen mißbraucht oder als eine vermeintlich judenfeindlich konzipierte Gestalt des Autors interpretiert worden. So erschien er immer wieder als Prototyp einer materialistischen Gesinnung im Geiste starrer jüdischer Gesetzestreue. Daniel Hoffmann schlägt demgegenüber den Weg einer konsequenten Lektüre der Erzählung aus jüdischer Perspektive ein. Er deutet Abdias‘ Verhalten und Denken aus den Quellen des Judentums und entwickelt ergänzend anhand literarischer Texte ein Bild vom Leben der Juden in Nordafrika im 19. und 20. Jahrhundert. So wird in der Gestalt des Juden Abdias ein bisher verkanntes religiöses Ethos sichtbar. Seine Einsamkeit aufgrund eines doppelten Diasporaschicksals (Nordafrika und Europa) verleiht ihm eine von dem katholischen Dichter Adalbert Stifter entworfene menschliche Größe, die ihm seine Leser bisher vielfach nicht haben zuerkennen wollen. In seinem einleitenden Essay zeichnet Dieter Borchmeyer, die Geschichte der jüdischen Figur in der deutschen Literatur von Lessings Nathan bis zu Stifter und Grillparzer nach.